Diebstahl

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

vor kurzem habe ich, was ich nie für möglich gehalten hätte, einen Diebstahl begangen. Juristisch gesehen war es vielleicht eher eine Art Unterschlagung und bezog sich nur auf eine geringwertige Sache. Und es war auch wirklich keine böse Absicht im Spiel. Aber immerhin…

Neulich hatte ich nämlich in unserem Edeka-Laden ein paar kleinere Besorgungen zu erledigen. Ich legte also die drei oder vier Sachen auf das Kassenband. Da entdeckte ich, als ich an der Reihe war, auf der Ablagefläche neben der Kasse einen 5-Euro-Schein. Ich hielt ihn sogleich in die Höhe, der Kassiererin entgegen, und fragte sie: „Wo kommt der denn jetzt her?“ Aber sie hörte mir gar nicht zu, riss mir den Schein aus der Hand, sortierte ihn in ihre Kasse ein und ließ ein paar Münzen Wechselgeld zusammen mit dem Kassenbon auf den Zahlteller fallen. Gerade wollte ich dagegen protestieren und es ihr noch einmal erklären, da sah ich, wie sich ein junger Mann mit seiner Freundin der Kasse näherte. Und die Freundin fragte ihn: „Wieso, was hast du denn hier verloren?!“

Das war aber jetzt richtig blöd. Wie stand ich denn jetzt da? Hastig fiel mein Blick in mein Portemonnaie, aber da war kein 5-Euro-Schein drin, den ich ihm hätte geben können. Der kleinste Schein war ein Zwanziger, Hartgeld hatte ich kaum noch. Und außerdem musste es schnell weitergehen. Die Leute hinter mir an der Kasse scharrten schon ungeduldig mit den Hufen. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile entschied ich mich also dazu, die heikle Situation dadurch zu beenden, dass ich das Wechselgeld einsteckte und den Laden verließ. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Dem jungen Mann erklären, dass ich seinen 5-Euro-Schein gefunden und ihn aus Versehen schon ausgegeben hatte? Und ihn fragen, ob er 20 Euro wechseln könne? Wie peinlich wäre das denn gewesen? Das hätte ja so ausgesehen, als ob ich gleich als erstes den gefundenen Schein absichtlich ausgegeben hätte, um sofort Fakten zu schaffen, und dies anschließend nur unter dem Druck der Umstände zugegeben hätte. Oder als ob mir hinterher ein schlechtes Gewissen gekommen wäre. Oder hätte ich alles auf die Kassiererin schieben sollen? Das hätte erst richtig blöd ausgesehen und einen total unglaubwürdigen Eindruck gemacht.

Einen Moment noch blieb ich draußen stehen und wartete, ob jemand hinter mir hergelaufen käme, womöglich noch mit den Worten „Haltet den Dieb!“. Es kam aber keiner. Gut, dachte ich mir später, dass es nur um vergleichsweise überschaubare 5 Euro ging. Wie unangenehm hätte es werden können, wenn es sich um größere Beträge oder wertvolle Gegenstände gehandelt hätte. Es ist wie in der griechischen Tragödie. Manchmal kommt man durch ungünstige Umstände ganz unverschuldet in richtig doofe Situationen und lädt dabei auch noch Schuld auf sich… Aber selbst wenn ich noch einmal in eine solche Lage käme, würde ich mich wahrscheinlich wieder genauso verhalten. Denn aus meiner Sicht ist es immer noch das geringere Übel, einen Diebstahl zu begehen, ohne dass es jemand merkt, als vor anderen als Dieb dazustehen, ohne wirklich einer zu sein. Zumindest rein praktisch gedacht erscheint es mir so, auch wenn die Moralphilosophie das anders sehen mag…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Feb 7th, 2022 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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