Durch seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche vor 500 Jahren schuf Martin Luther die Grundlagen für eine neue christliche Konfession – die bis heute mit sich hadert
Benedikt Vallendar
Nur wenige Jahrzehnte zuvor. Und Martin Luther wäre sehr wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen geendet. Die vermeintlich „gottgegebene“ Ordnung wäre, aus Sicht der Kirchenoberen, wiederhergestellt gewesen, und damit auch alles gut und sicher Geglaubte, wie seit Anerkennung des Christentums durch den römischen Staat im Jahre 325.
Doch seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ist die Welt in Aufruhr, haben die Spanier 1492 in Übersee eine neue Welt entdeckt und obendrein nach siebenhundert Jahren Krieg die Araber aus ihrem Land vertrieben. Der Beginn eines neuen, katholischen Zeitalters scheint zum Greifen nahe. Und dennoch: Die vermeintlichen Siege der Feudalkirche und ihrer weltlichen Patrone erweisen sich als Pyrrhussieg. Denn weder können sie innerkirchliche Missstände noch eine wachsende Unzufriedenheit mit dem selbstherrlichen Gebaren des hohen Klerus kaschieren. „Bei seinem Eintritt in das Erfurter Augustinerkloster 1505 wäre es Martin Luther aber kaum in den Sinn gekommen, sich von seiner Kirche abzuwenden, gar eine neue zu gründen, die sich anschicken würde, Krieg gegen Rom und den Papst zu führen“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin.
Doch genau diese Entwicklung bahnt sich zu Beginn des 16. Jahrhundert an. Sie zeigt sich in Luthers zunächst leisem und dann immer lauter werdendem Protest gegen das kirchliche Establishment und gipfelt schließlich am 31. Oktober 1517 im – historisch umstrittenen – Thesenanschlag in Wittenberg, der bis heute als Geburtsstunde und D.N.A. des Protestantismus gilt. Zum Showdown kommt es auf dem Reichstag zu Worms im April 1521, wo Martin Luther seinen Ideen abschwören und sich wieder in die Arme der römischen Kirche begeben soll. Doch Luther lehnt ab. Was er sich leisten kann. Da inzwischen weite Teile der Bevölkerung und auch der weltlichen Obrigkeit auf seiner Seite stehen. Längst haben sie die machtpolitischen Möglichkeiten der neuen Lehre erkannt, unter ihnen Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, der mit Luthers Verbringung auf die Wartburg bei Eisenach dafür sorgt, dass der kleinwüchsige und widerspenstige Mönch aus dem Mansfelder Land nicht in den Folterkellern der Heiligen Inquisition endet, wie viele vor und nach ihm.
Erstauflage bei 3.000
Herbst 1521. Seit sechs Monaten lebt Luther nun auf der Wartburg. Er entwirft Predigten, verfasst Traktate und wühlt sich durch die eher spärliche Hofbibliothek des Burgherrn. Seit Anfang Mai sitzt er als „Junker Jörg“ in einem für damalige Verhältnisse gut gesicherten Gemäuer, hoch droben im Thüringer Wald. Er lebt in den Tag hinein, unterbrochen durch gutes Essen, nette Gesellschaft und ausgiebige Lektüre. Nur Eingeweihte kennen seinen Aufenthaltsort. Bis er sich im Dezember 1521 an die Übersetzung des Neuen Testaments macht. Und bei seiner Rückkehr nach Wittenberg Anfang März 1522 das fertige Manuskript im Gepäck hat. Bevor es im September 1522, pünktlich zur Leipziger Buchmesse in der damals sehr hohen Auflage von dreitausend Exemplaren vorliegt. Noch 1522 beginnt Luther mit einer Gruppe von Fachleuten die – viel umfangreichere und aufwendigere – Übersetzung des Alten Testaments. Gedruckt erscheint die vollständige Heilige Schrift schließlich im Oktober 1534.
Was wenig bekannt ist: Die Lutherbibel ist keineswegs die erste Bibelausgabe in deutscher Sprache. Aber die erste in verständlichem Deutsch. Denn: Zu Luthers Zeiten können neun von zehn Menschen weder lesen noch schreiben. Die Bibel nehmen Gelehrte und Geistliche zur Hand – und zwar in der Regel die Vulgata, die lateinische Fassung, Ende des vierten Jahrhunderts vom heiligen Hieronymus aus dem Griechischen und Hebräischen übertragen. Vor Luther halten sich die Übersetzer der Vulgata ins Deutsche streng an deren Wortlaut und Satzbau. Das macht ihre Texte hölzern und schwerfällig. „Die lateinischen Buchstaben hindern über Maßen, sehr gutes Deutsch zu reden“, befindet Luther. Er benutzt deshalb auf der Wartburg nicht nur die Vulgata, sondern auch die griechische Fassung des Neuen Testaments des Erasmus von Rotterdam. Damit ist die Grundlage schon mal verbessert. Was freilich die Frage noch nicht beantwortet: Was, bitte, ist denn „sehr gutes Deutsch“? Denn eine einheitliche deutsche Sprache, wie wir sie heute kennen, gibt es zu Luthers Zeiten noch nicht. Die Leute sprechen in den Dialekten ihrer Region und können „in 30 Meilen Weges einander nicht (…) verstehen“, wie Luther klagt. Er selbst ist diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung. Seine Eltern sprachen eine Variante des Ostmitteldeutschen; in Mansfeld, wo er aufwächst, ist das Niederdeutsche verbreitet; auf Reisen, im Studium und als Professor in Wittenberg lernt er nicht nur viele Menschen, sondern auch deren Mundarten kennen. Mithin verfügt Luther über einen überdurchschnittlich reichhaltigen Wortschatz, den er für seine Übersetzungen nutzen wird. Zudem besitzt er den Mut, immer an die Leser zu denken; denn sein deutscher Text soll nur den Inhalt wiedergeben und keine buchstabengetreue 1-A-Übersetzung sein. Man müsse, findet Luther, „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und den selbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen“. Martin Luther ist damit – auch – ein Sprachschöpfer, der einzelne Begriffe und zahlreiche Wendungen und Wortspiele erfindet. In erster Linie jedoch ist er ein Sprachgestalter: Er wählt wegen seines frappierenden Sprachgefühls unter mehreren Möglichkeiten die wirklich klare, treffende, bildhafte, lebendige, eingängige und berührende Formulierung. Dabei bleibt seine Sprache gehoben, will sagen, es fehlen fast völlig jene Derbheiten, die aus seinem Munde überliefert sind („Aus einem verzagten Arsch kommt kein fröhlicher Furz“).
Religiöser Flickenteppich
Luthers Bibelübersetzung trägt wesentlich dazu bei, dass sich eine einheitliche deutsche Schriftsprache entwickelt. Wörter und Wendungen, die er benutzt, setzen sich in der Alltagssprache durch; viele sind uns geläufig und selbstverständlich und so populär wie vor 500 Jahren. Sie finden sich in modernen Bibelausgaben, trotz ungezählter Überarbeitungen. Doch was ihm womöglich einige verübeln: Luther hat mit seiner Bibel auch die Großschreibung von Hauptwörtern im Deutschen eingeführt. Dass Substantive – nicht nur am Anfang eines Satzes, sondern auch mittendrin – großgeschrieben werden, ist eine Besonderheit unter europäischen Sprachen. Man könnte auch sagen: eine besondere Schwierigkeit. Auf die manche gern verzichten würden, auch wenn sie maßgeblich beitrug zur Schaffung einer neuen, christlichen Konfession, die sich gerne in modernem Gewand zeigt; und unter deren Dach, dem Lutherischen Weltbund, sich heute so viele Gruppen und Grüppchen tummeln, dass selbst Offizielle längst den Überblick über das verloren haben, was „Protestantismus“ überhaupt bedeuten soll.