Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
die Nazi-Keule bzw. Faschismus-Keule sollte man nicht unbedacht schwingen. Insbesondere als Deutscher tut man gut daran, andere Staatsoberhäupter nicht in eine solche Ecke zu stellen. Das ist schon klar. Aber wie, bitteschön, soll man es denn sonst bezeichnen, wenn jemandes Armee schon wiederholt in Randgebiete angrenzender Länder einmarschiert ist und nun sogar einen Angriffskrieg gegen das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas führt? Wenn dazu seit Jahren völkische Ideologie verbreitet und die Eroberung neuer Lebensräume („Nowaja Rossia“) propagiert wird? (Und das wohlgemerkt vom flächenmäßig bereits größten Land der Erde.) Wenn die Gesellschaft gleichgeschaltet und schon zahlreiche Oppositionelle vom Geheimdienst hingerichtet wurden? Wenn die letzten noch halbwegs freien Medien abgeschaltet und Demonstranten schon dafür verhaftet werden, dass sie nur ein weißes Blatt Papier in den Händen halten? Wenn das Land von angeblichen Verrätern und Volksschädlingen gesäubert werden soll und gruselige Aufmärsche mit martialischen Ansprachen des großen Führers stattfinden?
Zur sogenannten Zeitenwende, die unsere Regierung eingeläutet hat, sollte es vielleicht auch gehören, die Dinge endlich einmal beim Namen zu nennen. Na gut, ein paar Grausamkeiten haben sie in Russland bisher noch ausgespart, immerhin sind sie vor industrieller Menschenvergasung gottlob noch zurückgeschreckt. Aber die unverhohlene Drohung mit dem Einsatz der eigenen Atomwaffenarsenale zeigt deutlich, dass hier ein Regime schon gefährlich außer Kontrolle geraten ist.
Dabei ist es wirklich erschütternd, wie dieses in vieler Hinsicht so großartige Land wieder einmal von politischen Hasardeuren geradewegs in den Abgrund geführt wird. Statt als großer Eroberer, wie er es sich vorstellt, dürfte Putin, wenn er so weitermacht, in die Geschichtsbücher vielmehr als Hauptangeklagter eines Kriegsverbrechertribunals eingehen. Und dazu noch als derjenige, der es geschafft hat, die einzigen nach zwei Jahrzehnten hochkorrupter Misswirtschaft noch einträglichen Wirtschaftszweige seines Landes auch noch zu ruinieren, indem nach und nach fast alle Öl- und Gasabnehmer außer China abspringen, das dann mit Rohstoffen zum Schnäppchenpreis versorgt wird, während Russland sich zu seinem Vasallenstaat entwickelt.
Die hanebüchene Idee, im 21. Jahrhundert durch militärische Eroberung und Unterwerfung seiner Nachbarn ein untergegangenes Großreich wieder zum Leben zu erwecken, statt sich zur Steigerung des Lebensniveaus der eigenen Bevölkerung auf die Entwicklung von wettbewerbsfähigen Produkten und die Eroberung von Märkten zu konzentrieren, ist wohl ähnlich verrückt wie die Wiedererrichtung eines islamistischen Kalifats in der arabischen Wüste. Aber solche Phänomene, und hier sollte sich der Westen einmal selbstkritisch hinterfragen, entsprechen leider der fatalen Tendenz der Moderne, im globalen Konkurrenzkampf immer auch Verlierer zu produzieren, seien es Individuen oder ganze Staaten, die ein beträchtliches destruktives Potential entfalten können. Oder irgendwann womöglich die ganze Welt in die Luft sprengen.
Kurzum, die angestrebte Entnazifizierung der Ukraine ließe sich für Russland leicht erreichen, indem es einfach seine Truppen wieder abzöge.
Dein Johannes
P.S.: „Der Russofaschismus hat sein böses Haupt erhoben. Putin ist in die Rolle Hitlers geschlüpft. Gespenstische Wiederkehr (…) Niemand darf den Namen des Teufels nennen. Hitler-Vergleiche verbieten sich, erst recht bei uns, den Erben Hitlers mit unserer unseligen Vergangenheit.“ (Durs Grünbein, „Nichts berechtigt uns zur Hoffnung“ in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3. April 2022, S. 17.)
P.P.S.: „Geschichte umwidmen, brutal neu definieren, das ist die Choreographie eines faschistischen Systems. Wenn einer als Faschist sagt, er würde Faschisten bekämpfen, wie hier, dann pervertiert er Sprache, will Kategorien verwischen. Denn was ist nicht faschistisch an dieser russischen Regierung? Wir haben einen Vernichtungskrieg, wir haben den Versuch eines Genozids, wir haben einen Führerkult, einen Totenkult und einen Kult der Vergangenheit als die goldene Zeit.“ (Prof. Timothy Snyder, Historiker Yale University in ZDF heute journal am 10.5.2022)
P.P.P.S.: „Gibt es etwas am russischen Staat, was heute nicht faschistisch ist? Hier eine Liste von Merkmalen des Faschismus, die auf Russland zutreffen: Eins: Einparteienherrschaft. Zwei: der Kult des Führers. Drei: Kontrolle der Medien. Vier: Kult des Imperiums, seiner Toten und seiner historischen Unschuld. Fünf: Die Welt wird durch Verschwörungstheorien erklärt. Sechs: ein Ständestaat nach dem Vorbild von Mussolinis Italien, nur noch radikaler. Sieben: Vernichtungskrieg und Völkermord. Acht: ein Kult des Willens und der Tat. Russlands hybride Kriegsführung, diese Kombination aus Propaganda und Gewalt, kann als Triumph des Willens über die Realität gesehen werden. Und dann natürlich die Idee vom Feind. Der Ausgangspunkt des Faschismus ist der Begriff des Feindes, und der Feind Russlands in Putins Sicht ist der Westen… Ich spreche von Faschismus, weil Faschismus viele Gestalten hat. Es gibt britische, französische, italienische, deutsche oder amerikanische Faschisten, und alle sind ein wenig anders. Wenn ich jetzt sagen würde, Putin ist wie Hitler, dann wäre das zu eng gefasst… Trotzdem: Wo es um die Ukraine geht, sind die Ansätze der Nazis und des heutigen russischen Regimes ähnlich. Dazu gehört, dass die Ukrainer als Kolonialvolk wahrgenommen werden, dessen Elite ausgelöscht werden muss… Diese Hemmung (durch den Vorwurf der Verharmlosung des Holocausts; d. Verf.) macht es schwer, Faschismus heute beim Namen zu nennen und für seine Bekämpfung Verantwortung zu übernehmen. Das gilt auch für Russlands faschistischen Vernichtungskrieg in der Ukraine. Deportation war eine Methode Hitlers. Heute sind anderthalb Millionen Ukrainer deportiert worden. Das ist Völkermord. Ukrainische Kinder werden entführt, um zu Russen gemacht zu werden. Das ist Völkermord. Die Russen töten die Eliten der besetzten ukrainischen Gebiete, und auch das ist Völkermord.“ (Interview mit Prof. Timothy Snyder in FAS: https://zeitung.faz.net/fas/politik/2022-06-05/de7bd3e94e0650d14614ba82bf872aa0/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE)
P.P.P.P.S.: NTV-Interview mit Osteuropa-Historikerin Franziska Davies (LMU München):
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Wie kann man klassifizieren, was Putin macht? Ist sein Regime imperialistisch, faschistisch oder beides? Oder ist der Begriff des Faschismus entwertet, weil Putin ihn so inflationär benutzt?
Es ist ein imperialistisches Regime. Ich würde es eine völkische nationalimperialistische Diktatur nennen. Putins Regime hat sicher auch faschistische Elemente. Aber das Problem mit dem Faschismus-Begriff ist, dass er relativ unspezifisch ist.
Welche Elemente seiner Diktatur sind faschistisch?
Zum Beispiel den Führerkult. Allerdings ist ein Unterschied zum klassischen Faschismus, dass es Putin immer noch darum geht, einen Teil der Bevölkerung in der Apathie zu halten. Es gibt diese Inszenierung von Massenunterstützung wie bei der Veranstaltung im Moskauer Luschniki-Stadion im März. Aber nach wie vor ist ein erheblicher Teil der russischen Gesellschaft politisch apathisch, und Putin will offenbar, dass das so bleibt. Ein faschistisches System duldet Apathie in einem solchen Ausmaß nicht. Und schließlich ist es tatsächlich so, dass „Faschismus“ zu einem Kampfbegriff geworden ist. Das macht seine Verwendung als analytischen Begriff schwierig.
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P.P.P.P.P.S.: DW-Interview mit Prof. Francis Fukuyama:
… „Wie ist ihr Blick auf Russland – in einer breiteren globalen Perspektive? Was für eine Art politisches Regime ist das?
Mehr als je zuvor ähnelt es jetzt eigentlich Nazi-Deutschland. Die einzige Ideologie ist eine Art extremer Nationalismus, aber sogar der ist weniger entwickelt als bei den Nazis. Es ist auch ein sehr schlecht industrialisiertes Regime. Alles dreht sich um einen Mann. Wladimir Putin kontrolliert alle Bereiche der Macht.
Kein Vergleich zu China dagegen: China hat eine große kommunistische Partei mit mehr als 90 Millionen Mitgliedern, mit einer hohen internen Disziplin. So eine Institution hat Russland nicht. Russland ist deshalb glaube ich kein stabiles Regime. Es hat keine klare Ideologie, die nach außen hin irgendetwas darstellen würde. Die Leute, die dieser Ideologie anhängen, mögen einfach nur den Westen aus irgendwelchen Gründen nicht.“ …