Zum Tod von Michail Gorbatschow (1931-2022)
Thomas Claer
Putins Erzählung lautet so: Was russische Führer über Jahrhunderte mühsam aufgebaut haben, ist vor drei Jahrzehnten innerhalb weniger Monate leichtfertig verspielt worden. (Überflüssig zu erwähnen, wem allein er die Schuld am Zerfall der Sowjetunion, der angeblich größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, gibt.) Das andere Narrativ, das man in Russland aber wohl mittlerweile gar nicht mehr aussprechen darf, ohne dafür gleich hinter Gitter zu wandern, ist hingegen: Was Freiheits- und Demokratiebewegung nach 70 respektive 40 düsteren Jahren endlich erreicht hatten: die triumphale Beseitigung von Zwangsherrschaft und Diktatur in halb Europa, ist in Russland während der beiden vergangenen Dekaden Schritt für Schritt wieder gründlich zurückgedreht worden – und nun soll auch noch das alte Imperium mit aller Macht wieder herbeigebombt werden.
Welch ein erbärmliches Weltbild steckt doch hinter einer politischen Haltung, die den Sinn des menschlichen Lebens heute noch – im 21. Jahrhundert! – in der kriegerischen bzw. spezialoperativen Eroberung möglichst großer Landmassen und der Knechtung ihrer Bewohner erblickt, noch dazu wenn man bereits das flächenmäßig größte Land der Erde ist!, statt sich endlich einmal um die Verbesserung des Lebensstandards der eigenen Bevölkerung zu bemühen, die weiterhin perspektivlos in einer rückständigen und hochkorrupten Günstlingswirtschaft sondergleichen feststeckt. Was für eine Lichtgestalt hingegen war doch vor dreieinhalb Dekaden der Glasnost- und Perestroika-Generalsekretär, der mehr als hundert Millionen Menschen in die Freiheit entließ und uns Deutschen den Fall der Mauer sowie die friedliche Revolution und Wiedervereinigung ermöglichte.
Doch hat die jahrelange Putinsche Gehirnwäsche ihre Wirkung bei seinen Untertanen offenbar nicht verfehlt: Der mit Abstand Unbeliebteste unter allen russischen und sowjetischen Führern ist dort – seit Jahren unverändert – Michail Gorbatschow, der ja das stolze Großreich ruiniert hat. Der Beliebteste dagegen ist – ebenfalls schon seit langen Jahren – Josef Stalin (1878-1953), der je nach Zählweise bis zu 60 Millionen (!) Bürger seines Landes um die Ecke gebracht hat, übrigens überwiegend Mitglieder der Kommunistischen Partei, also seine eigenen Anhänger. Und seinen einzigen „Erfolg“, den militärischen Sieg über Hitler-Deutschland im 2. Weltkrieg, nutzte er zu Landraub und Unterjochung anderer Völker in allergrößtem Stil. Echt ein toller Typ! Man stelle sich nur einmal vor, in Deutschland hielte die Mehrheit Adolf Hitler für den größten Staatsmann aller Zeiten. Wie sagte mein ukrainischer Mieter: Eigentlich bräuchte die russische Bevölkerung eine Umerziehung wie die Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg. Dem ist nichts hinzuzufügen. Nur dass leider niemand in Sicht ist, der diese Aufgabe übernehmen könnte.
Und so bleibt es wohl bis auf weiteres dabei, dass im einstigen Land des roten Oktobers nicht das Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern die Welt als Wille und Vorstellung.