Die Kastrierten Philosophen sind wieder produktiv – nach 26 Jahren!
Thomas Claer
Jede Band von Bedeutung, die sich aufgelöst hat, kommt früher oder später auch wieder zusammen. Das ist so eine Art Naturgesetz der Branche. Die Fans dürsten nach einer Wiedervereinigung, nach neuen Songs von ihren alten Lieblingen, nach Revival-Tourneen und kostbaren Sammeleditionen der alten Veröffentlichungen. Und irgendwann lassen die alten Helden, so sie denn noch am Leben und halbwegs gesund geblieben sind, sich dann endlich breitschlagen und steigen tatsächlich noch einmal in den Ring. Nur bei den Kastrierten Philosophen, den Sonderlingen aus dem Indie-Underground der Achtziger und Neunziger, die damals ein richtig heißer Szene-Act gewesen sind, da war man sich ganz sicher, dass so etwas nie passieren würde.
Seinerzeit waren die beiden Hauptprotagonisten Katrin Achinger und Matthias Arfmann, die auch privat ein Paar waren (am Ende sogar ein Ehepaar mit Kind, um genau zu sein) ja nicht gerade friedlich auseinandergegangen. Auch wenn keine Details bekanntgeworden sind, konnte sich ja jeder an fünf Fingern abzählen, was wohl passiert sein musste: Von heute auf morgen wurde das Band-Projekt eingestellt, und Matthias Arfmann posierte auf seinen bald darauf erscheinenden Solo-Veröffentlichungen an der Seite einer auffällig hübschen jungen exotischen Sängerin. Katrin Achinger hingegen musste sich von nun an als alleinerziehende Mutter durchschlagen und war so begreiflicherweise musikalisch weitgehend ausgebremst…
In einem Interview berichtete sie lange Jahre später davon, wie hart diese Zeit für sie gewesen ist. Irgendwann stellte sie sich beruflich neu auf und wurde Englisch-Lehrerin an einer Volkshochschule in Hamburg. Hach, wenn man damals in Hamburg gewohnt und davon Wind bekommen hätte, dann hätte man sich aber schnurstracks zum Englisch-Kurs bei Katrin Achinger angemeldet und sich alle seine geliebten Philosophen-Platten und CDs von ihr signieren lassen. Man hätte ihrer wunderbaren Stimme gelauscht, wie sie die Vokabeln deklamiert…
Aber genug der Vorrede. Die Kastrierten Philosophen, es ist wirklich kaum zu glauben, sind tatsächlich wieder da. Offenbar haben sie sich zusammengerauft, einander verziehen, sich auf ihre so überaus fruchtbaren gemeinsamen 15 Jahre besonnen. Jetzt, wo beide um die sechzig und darüber wohl auch ein Stück weit altersmilde geworden sind… Ein Best of-Album ist also nun entstanden, das insgesamt 17 Titel enthält, darunter sogar zwei neue. Loben muss man zunächst das bunt gemusterte Platten-Design, das großartigerweise rechts unten auf der Vorderseite die beiden Strichmännchen zeigt, die schon ihre allererste selbstbetitelte MC in den frühen Achtzigern geschmückt haben. Auch die CD selbst in Schallplattenoptik und mit pechschwarzer Rückseite (und trotzdem lässt sie sich problemlos abspielen!) ist ein Augenschmaus. Und selbstverständlich ist auch lauter gute Musik auf der Scheibe enthalten. Allein, das Beste von dieser Band? Nein, das bleibt leider ausgespart.
Gerade einmal ein einziges meiner zahlreichen Lieblingslieder von den Philosophen, nämlich “Toilet Queen”, befindet sich auf der Platte. Als ob sie sich bei der hier vorgenommenen Auswahl aus ihrem Oeuvre bewusst auf die tendenziell harmloseren, ja mitunter fast schon gefälligen Titel beschränkt hätten. Das ganz schräge Zeug, der ganz heiße Stoff hat es leider nicht aufs Album geschafft. Wo bleiben “Decadent Café” und “Faceless Fuckparade”, “Endzeitliebe” und “Hard Break Hotel”? Was ist mit “Lens Reflects Fear”, “Call Yourself a Liar”, “Gun Beat Babes 2” und “¿Por Qué Lloras?” Und warum fehlen “40th Generation” und “Cyrenaika”, “Privacy” und “Tyrants Of Insomnia”? Ebenso vergeblich sucht man nach “She’s Allergic” und “Peeping All”. Eigentlich müssten sie gleich noch eine weitere Best-of-the-Rest-Platte raushauen. Allerdings ist leider zu befürchten, dass sich das wohl wirtschaftlich nicht rechnen würde. Denn so viele Fans aus alten Tagen außer einem selbst sind dann vermutlich doch nicht mehr übriggeblieben. Wie konnte eine so fantastische und außergewöhnliche Musik nur dermaßen in Vergessenheit geraten? Es wird höchste Zeit, sie wieder oder neu zu entdecken!
Ach ja, es sind wie gesagt auch noch zwei neue Songs auf der Platte. Tja, man freut sich natürlich sehr darüber, mal etwas Neues von ihnen zu hören. Und es ist ja auch nicht ganz schlecht, aber eben doch längst nicht so gut wie die alten Sachen. Der letzte Song des Albums, das Titelstück “Jahre” mit einem sehr philosophischen Text in deutscher Sprache (der dem Bandnamen alle Ehre macht) ist schon vor einigen Jahren unter dem Titel “Hans im Glück” von Katrin Achingers Band “Flight Crew” herausgebracht worden, was aber vollkommen in Ordnung geht.
Kastrierte Philosophen
Jahre. 1981-2021 + 1
about us records 2022
LC 92196