Scheiben Spezial: Vor 25 Jahren erschien „Shrink“ von The Notwist
Thomas Claer
Es beginnt mit rhythmisch klappernden Geräuschen wie auf einer Zugfahrt, aber gleichzeitig frickelt es auch schon ein wenig im Hintergrund. Dazu ein monoton surrender synthetischer Klang und dabei schleift, kratzt und scheuert es unentwegt. Nach einigen Sekunden dann setzen wiederholte Schläge auf irgendwelche Rohre ein, und noch etwas später mischen sich dezente Gitarrenklänge dazu. Irgendetwas blubbert unterschwellig. Erst nach mehr als zwei Minuten tritt unvermittelt der leise, immer etwas klagende Gesang von Markus Acher hinzu – und der Zuhörer ist angekommen im Kosmos des blauen Albums der bayrischen Band The Notwist mit dem rätselhaften Titel „Shrink“, was soviel wie „Schrumpfen“ bedeutet. Es ist so überaus raffiniert und fein arrangiert, was die Weilheimer Indie-Kapelle auf ihrem vierten Album alles entworfen hat, dass man auch heute noch, 25 Jahre später, aus dem Staunen nicht herauskommt. Im weiteren Verlauf, so ab dem dritten der zehn Stücke, bekommt die Platte dann auch noch eine sehr jazzige, mitunter sogar freejazzige und bläserlastige Note. Keineswegs ratsam wäre es, sich die Tracks einzeln anzuhören. Nein, so unterschiedlich sie auch sein mögen, sie bilden gemeinsam ein künstlerisches Gesamtwerk, wozu auch unbedingt das tiefblaue Album-Cover gehört, das gleichsam die melancholische Grundstimmung vorgibt, von der sich allein der beschwingte zweite Track „Chemicals“ ein wenig abhebt.
Man kann „Shrink“, das einer von vielen Wendepunkten im Schaffen dieser enorm einflussreichen Band gewesen ist, als einen Trip, als eine Art Reise begreifen – durch die (damals) neuen und revolutionären Landschaften multipler technischer Klang- und Geräuscherzeugung einerseits und durch die gedämpften inneren Erregungszustände frustrierter zeitgenössischer Individuen andererseits. Die sich in dieser Musik ausdrückende Haltung könnte in etwa dem alten Tocotronic-Motto: „Ich bin alleine, und ich weiß es, und ich find es sogar cool“ entsprechen. Nur dass es bei The Notwist natürlich unendlich viel subtiler anklingt… Für mich war „Shrink“, das legendäre blaue Album, so etwas wie mein Soundtrack durchs Erste Juristischen Staatsexamen und die bedrückende Zeit danach, wobei sich bald darauf auch noch das nachfolgende, ebenfalls ausgezeichnete, rote Album „Neon Golden (2002) hinzugesellen sollte – um von der Entdeckung des phänomenalen Vorgängers, des bunten Albums „12“ (1995), gar nicht zu reden… Das Urteil für „Shrink“ lautet „sehr gut“ (16 Punkte).
The Notwist
Shrink
Big Store / Cargo 1998
ASIN: B018N37V3Y