Jörg Später befasst sich mit „Adornos Erben“
Matthias Wiemers
Das einhundertjährige Bestehen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beschäftigt offenbar in diesem Jahr mehrere Autoren. Weniger mit den Gründern und mehr mit den Nachfolgern der Gründergeneration beschäftigt sich das Werk des Freiburger Publizisten Jörg Später, der damit einen Beitrag zur Darstellung der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte liefert.
Nach einer Einleitung liefert der Autor zunächst einen Prolog, in dem mitgeteilt wird, wie die so genannte kritische Theorie seit Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Jahre 1923 entstand und wie die Gründer – darunter Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Theodor W. Adorno – nach der „Machtergreifung“ der Nazis in die USA flohen und nach dem Krieg zurückkehrten und wie zunächst Horkheimer (Philosophie und Soziologie).Pollock (Volkswirtschaftslehre) und zuletzt 1953 auch Adorno (Philosophie und Soziologie) Professuren an der Frankfurter Universität erhielten und das neue Institutsgebäude 1951 in der Nähe des zerstörten alten, aber nicht mehr von einer Stifterfamilie, sondern überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert, 1951 errichtet wurde. Erst in den 1960er Jahren sprach man – Jörg Später erwähnt es gelegentlich – insofern von einer bzw. der „Frankfurter Schule“.
Die eigentliche Geschichte, die Später erzählen will, gliedert er in drei Hauptteile, wobei der erste Teil mit „Schulbildung, 1949 – 1969“ überschrieben ist. Darin wird die Re-Etablierung des Instituts für Sozialforschung in der frühen Bundesrepublik geschildert und welche Personen sich als „Die ersten Schüler in der Philosophie“ (S. 49 ff.) und später auch die Soziologen („Öffentliche Soziologie und Zaungäste am Frankfurter Hof“, S. 62 ff.) zu den Gründern des IfS stießen. Im Grunde wird das Wirken von etwa fünfzehn Schülerinnen und Schülern bzw. geistig Verwandten bis zu deren Tod bzw. bis in die Gegenwart geschildert:
– Hermann Schweppenhäuser (1928 – 2015),
– Karl Heinz Haag (1924 – 2011),
– Peter Szondi (1929 – 1971),
– Ivan Nagel (1931 – 2012),
– Alfred Schmidt (1931 – 2012),
– Ludwig von Friedeburg (1924 – 2010),
– Helge Pross (1927 – 1984),
– Gerhard Brandt (1929 – 1987),
– Regina Becker-Schmidt (geb. 1937),
– Jürgen Habermas (geb. 1929)
– Oskar Negt (1934 – 2024),
– Herbert Schnädelbach (geb. 1936),
– Rolf Tiedemann (1932 – 2018),
– Elisabeth Lenk (1937 – 2022) und
– Alexander Kluge (geb. 1932).
Dabei wird selbstverständlich Jürgen Habermas als der bis heute wirksamste Schüler geschildert und erfährt der Leser zudem einiges über Bildungspolitik bzw. Bildungsexpansion. Und dies nicht nur dadurch, dass das Wirken des Adorno-Schülers Ludwig von Friedeburg als Hessischer Kultusminister geschildert wird, sondern auch das Wachstum akademischer Bildungsstätten in den 196034 und 1970er Jahren. Hierbei werden insbesondere die in eine TU umgewandelte TH Hannover sowie die Neugründungen in Lüneburg und anderenorts erwähnt.
Die erste Phase endet mit dem Tod Adornos 1969 und trät den Titel „Die Schule entlässt ihre Kinder“. Hiermit wird der Prozess beschrieben, in dem die Schülerinnen und Schüler in die Republik ausströmen und zumindest zum Teil eigene Lehrstühle erhalten.
Der dritte Teil u. d. T. „Kritische Theorie im Handgemenge“ (S. 373 ff.) behandelt die namentlich von Jürgen Habermas, aber auch Oskar Negt und Alexander Kluge, beanspruchte Rolle eines öffentlichen Intellektuellen und die Einmischung in gesellschaftlich relevante Debatten – von der Wandlung der Öffentlichkeit über den Historikerstreit bis zum fortwährenden Antisemitismus auch unter Linken.
Der Autor hält Frankfurt jedenfalls bis zur Ablösung durch Berlin in der Zeit nach der Wiedervereinigung für die intellektuelle Hauptstadt der Bundesrepublik (vgl. S. 548 u. öfter).
Der Rezensent, der seit einem Jahr in Frankfurt wohnt, freut sich, dass er sich mit der Lektüre eine wichtige Facette der bundesrepublikanischen Geschichte erschließen konnte.
In unser aller Interesse sollte es liegen, die Vielfalt in unserem Land zu erhalten (Nicht zuletzt die Abwanderung des Suhrkamp Verlages, in dem der Band erscheint, vor einigen Jahren von Frankfurt nach Berlin, bereitet insofern nach wie vor Sorge).
Betrachten wir das Buch als einen Beitrag zur Vertiefung des Verständnisses unserer Republik, der tiefergeht als die inzwischen nicht wenigen, die „1968“ beschreiben, mit dem die Frankfurter Schule auch immer wieder in Verbindung gebracht wird.
Niemandem tritt man wohl persönlich zu nahe, wenn man feststellt, dass der Wegfall der innerdeutschen Systemgrenze auch etwas mit geistiger Verarmung zu tun hat – auch wenn die aufwendige beiderseitige Beleuchtung der innerdeutschen Grenze (und einiges Andere mehr) damit wegfallen konnte.
In gewisser Weise bildet der Band eine Fortsetzung des etwas früher erschienenen Werks von Philipp Lenhard über das „Café Marx“, das hier ebenfalls knapp besprochen wurde. Er ist ein Nachweis der Vielfalt in unserer Republik, der nachzuspüren sich lohnt.
Jörg Später
Adornos Erben. Eine Geschichte aus der Bundesrepublik
Suhrkamp Verlag 2024
xx Seiten; 34,99 Euro
ISBN: 978-3-518-43177-1