Alexander Jansen untersucht die Einflüsse von Smend, Schmitt und Thoma auf die Grundrechte
Matthias Wiemers
Eigentlich könnte man glauben, die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes sei ausreichend erforscht. Denn weder gab es nachher noch einen Weltkrieg, noch tagte der Parlamentarische Rat irgendwo an einem sicheren Ort wie damals in Weimar und musste man auch nicht in eine andere Stadt fahren, um zu einer juristischen Fakultät zu gelangen. Nein, der Parlamentarische Rat tagte in der recht wenig zerstörten Stadt Bonn, am Ort einer der größten juristischen Fakultäten des ehemaligen Reiches. Austausch mit Juristen war möglich und es wurde auch alles dokumentiert. Generationen von Rechtshistorikern und anderen haben sich immer wieder mit der Entstehung der deutschen Nachkriegsverfassung befasst und hierzu veröffentlicht. Ausgerechnet ein Doktorand am Bonner Institut für Deutsche und Rheinische Rechtsgeschichte hat nun eine bestimmte Fragestellung zum Gegenstand einer Doktordissertation gemacht, und zwar die Frage, inwiefern drei von ihm ausgewählte Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik Einfluss auf die Ausgestaltung der Grundrechte des Grundgesetzes hatten.
Dass zunächst Rudolf Smend und Carl Schmitt ausgewählt wurden, lässt sich für am Öffentlichen Recht Interessierte sicher allgemein nachvollziehen, wenn man an deren Schulen denkt, die über Jahrzehnte die Wissenschaftsgeschichte des Öffentlichen Rechts der Bundesrepublik geprägt haben. Darüber hinaus zählt man beide zu den Großen des Faches in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik (Jansen geht von einer Vierergruppe aus („Weimarer Quadriga“), zu der er zudem noch Hermann Heller und Erich Kaufmann zählt, in der Literatur findet man allerdings gelegentlich Kaufman durch Hans Kelsen ersetzt). Die Erweiterung des Untersuchungsgegenstands um Richard Thoma wird nicht nur damit begründet, dass er Mitbegründer des „Handbuch des Deutschen Staatsrechts“ („Anschütz/Thoma“) war, sondern zudem mit Thomas Tätigkeit als Gutachter für den für die Grundrechts zuständigen Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates (S. 8).
Nacheinander werden Smend, Schmitt und Thoma untersucht, während die Spanne der untersuchten Literatur von Smends Hauptwerk „Verfassung und Verfassungsrecht“ (1928) bis zur Erstauflage Hermann von Mangoldts GG-Kommentar reicht. Bei Schmitt spielt die Verfassungslehre (ebenfalls 1928) wie auch seine Beiträge im „Anschütz/Thoma“ eine Rolle in der Untersuchung. Sehr schnell zeigt sich, dass die Rolle der beiden Schulen eine große Bedeutung zukommt, da beide das Bild ihres Oberhaupts zu pflegen suchten. Der Autor untersucht die in der Literatur (von der Smend-Schule) aufgestellte Behauptung, Smends im Wesentlichen in „Verfassung und Verfassungsrecht“ entwickelte Integrationslehre habe die Vorarbeit für die Grundrechtskonzeption des GG geleitet und auf der anderen Seite habe Schmitt – so die Schmitt-Schule – die Schaffung der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG geprägt (S. 11).
Bei Smend zeigt sich jedoch, dass die Integration mit Normativität wenig zu tun hat, dass die Grundrechte aus den „gesetzlichen Formulierungen“ herausfallen (S. 43) und dass die Verfassung staatlicher Akteure gestellt wird, weil ein staatlicher Akt nicht deswegen verfassungswidrig wird, weil er einer Verfassungsnorm widerspricht, sondern weil er nicht der Integration dient (S. 47). Der Autor arbeitet auch heraus, dass es erst der Nachkriegs-Schüler Konrad Hesse ist, der die Lehre Smends dahingehend weiterentwickelt, dass nunmehr die Normativität der Verfassung anerkannt wird (S. 48). Jansen kommt zu dem Ergebnis, die Integrationslehre „sprenge“ die Grundrechtskonzeption des Liberalismus (S. 58), die schließlich auf der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft beruht.
Schon naheliegender war es, bei C. S. nachzusehen, ob er nicht in der Tat inhaltlichen Einfluss auf die Gestaltung des GG genommen hat. Jansen untersucht hier zuerst seinen möglichen Einfluss auf die Gestaltung der „Ewigkeitsklausel“ und arbeitet heraus, dass der SPD-Politiker Adolf Arndt schon 1953 Schmitt die Urheberschaft hierfür zuschreibt, bevor die Schmitt-Schule diese Behauptung aufstellt (S. 71 f.). Die Behauptung kann i. E. nicht belegt werden (S. 93), und nun wendet sich der Autor den möglichen Einflüssen Schmitts auf den Grundrechtsteil zu. Hierbei musste es natürlich um die institutionellen Garantien und Institutsgarantien gehen, die Schmitt in seiner Verfassungslehre und im Handbuch des Deutschen Staatsrechts entwickelt hatte. Untersucht werden die Wissenschaftsfreiheit, der Schutz von Ehe und Familie sowie der Schutz von Eigentum und Erbrecht. Während der Nachweis der Schmitt´schen Urheberschaft bei der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 nicht geling und dies auch für die Eigentumsfreiheit nicht möglich ist, weist Jansen nach, dass im Falle des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG der Abgeordnete von Mangoldt (CDU) im Ausschuss den Anschütz´schen Kommentar zur WRV zitierte, dieser aber seine Position wiederum von Carl Schmitt bezog (S. 103 ff.). Carlo Schmid (SPD), der die Meinung seines Fast-Namensvetters nicht unbedingt teilte, war zudem in der Sitzung des Grundsatzausschusses, in der Art. 6 verhandelt wurde, nicht anwesend – bei Art. 5 und 14 schon (S. 110).
Im Falle von Richard Thoma, für den zu Beginn die These der Charakterisierung als Transporteur liberaler Grundrechtslehren aufgestellt wird (S. 113 ff.), stellt sich sodann heraus, dass dessen in seiner Habilitationsschrift von 1925 entwickelte Grundrechtstheorie zwar liberal ist, sich aber im Parlamentarischen Rat deswegen nicht durchsetzen kann, weil die Abgeordneten von einem tiefsitzenden Misstrauen gegenüber der Richterschaft erfüllt sind – offenbar ein Ergebnis der NS-Erfahrungen (Hinweise auf Bernd Rüther´s „Unbegrenzte Auslegung“ fehlen nicht).
Jansen kann zeigen, dass Thoma von der normativen Kraft der Grundrechte selbstverständlich ausging und er deutlich zwischen der staatlichen und privaten Sphäre trennt (S. 137 ff.). Der Parlamentarische Rat folgte Thoma im Grundsatz, entwickelte aber eine andere Schrankensystematik (S. 158). Im Ergebnis kann ein Einfluss Richard Thomas auf die Entwicklung der Grundrechtsschranken nicht nachgewiesen werden (S. 159). Als Zusammenfassung der Beweggründe der Mütter und Väter des GG findet Jansen im Ergebnis nur das Stichwort „Lehren aus der Vergangenheit“ (S. 162). Der Autor hat allerdings die Protokolle des Parlamentarischen Rates so weit erforscht, dass er keine Hinweise darauf vorfand, die es lohnenswert erscheinen ließen, weitere Staatsrechtslehrer und ihre Lehren hinsichtlich ihrer möglichen Einflüsse auf den Parlamentarischen Rat zu untersuchen (S. 163). Gleichwohl hat Alexander Jansen mit seiner Arbeit eine doch noch bestehende Lücke in der Forschung geschlossen, indem er das Wirken dreier ehemaliger Bonner Staatsrechtslehrer in einem bestimmten Punkt genauer untersucht hat. Der Rezensent als Bonner Absolvent freut sich über diesen erkenntnisreichen Lückenschluss.
Alexander Jansen
Grundrechte als Produkt der Staatsrechtswissenschaft?: Eine Untersuchung zum Einfluss von Rudolf Smend, Carl Schmitt und Richard Thoma auf die Entstehung der Grundrechte im Parlamentarischen Rat
Mohr Siebeck, 2024
208 Seiten; 74,00 Euro
ISBN: 978-3-16-163845-9