ChatGPT erhält ein eigenes Rechtshandbuch
Matthias Wiemers
Wer sich mit gewerblichen Schutzrechten beschäftigt, weiß, dass Produktnamen zu Gattungsbegriffen werden können. Ein Beispiel, das insoweit immer wieder genannt wird, ist das Produkt „Tempo“, das generisch für Papiertaschentücher verwendet wird. Wohl ebenfalls unter das Phänomen der generischen Verselbständigung können wir wohl das KI-Programm „ChatGPT“ fassen, das erst seit Herbst 2022 auf dem Markt ist und inzwischen (unkontrolliert) in aller Welt eingesetzt wird, um sprachgestützt und lernend Schlüsse zu ziehen und Probleme zu lösen, die der Mensch aufgrund seiner Hirnstruktur nicht lösen kann. Das System produziert uns gewissermaßen auch noch ein Wortspiel, indem es zu den generativen KI-Systemen rechnet und somit hierauf das Generische gleich doppelt bezüglich wird.
Der Untertitel lautet „KI-basierte Sprachmodelle in der Praxis“ und zeigt auf, dass hier nicht nur rechtlich theoretisiert wird – was angesichts der vorstehend angedeuteten rasanten Entwicklung aber auch nicht heißen kann, dass man nur auf Praxiserfahrungen setzen kann. Denn diese entwickelt sich in einer Weise weiter wie in wohl keinem anderen Rechtsgebiet.
Blicken wir in den Band hinein, so finden wir bestätigt, dass am Anfang nicht das Recht, sondern die Technik steht. Patrick Glauner von der TH Deggendorf skizziert nämlich zu Beginn „Technische Grundlagen von generativen KI-Modellen“ (§ 1), wo insbesondere die Entstehung des „Deep Learning“ und „Large Language Models“ beschrieben werden. Besonders interessant ist der Ausblick und darunter das Stichwort „Kausalität“. Dies bietet sicherlich für rechtliche Gestaltungen besondere Potentiale, die Glauner aber ausspart.
Martin Ebers, Berlin/Tallinn, springt sodann gleich in die EU-KIÄ-Verordnung, vulgo: AI Act, und beschreibt die „Regulierung generativer Künstlicher Intelligenz in der KI-VO“ (§ 2). Während Glauner zu Beginn seines Beitrags auf eine Literaturliste gänzlich verzichtet (und lieber in einem Sternchenvermerk darauf hinweist, ChatGPT habe ihn bei Erstellung seines Beitrags unterstützt – keine Angst, es geht dann mit nummerierten Fußnoten weiter), zeigen über vier eng bedruckte Seiten bei Ebers, wie beeindruckend viel es bereits hierzu gibt und wie viele Juristen sich bereits mit der Thematik beschäftigt haben. In seinem Text weitet Ebers allerdings den Blick, indem er zunächst einen Gesamtüberblick über die Regulierung generativer KI in EU-Rechtsakten gibt. Es wäre in der Tat ein Irrtum zu glauben, man könne ein solch starkes Phänomen eines drohenden „Technopols“ (Neil Postman) mit nur einem „Act“ in den Griff bekommen. Wenn man so will, bildet das Kapitel Ebers´ zugleich eine Kurzkommentierung der KI-Verordnung. Nachdem die ersten beiden Kapitel den ersten Teil des Handbuchs über „Grundlagen“ bildeten, startet sodann Teil 2, der „Rechtsgebiete“ präsentiert, die von dem technischen Phänomen betroffen sind – eine nähere Ausführung dessen, was bereits Ebers in einem Abscnitt seines Beitrags aufgespannt hat. Sarah Legner von der Wiesbadener EBS gibt eine knappe Übersicht über das „Urheberrecht“ (§ 3), bevor die Rechtsanwälte Olga Stepanova und Bernhard Veeck aus Frankfurt die Bezüge zum „Datenschutzrecht“ herstellen (§ 4). Jan-Laurin Müller, Berlin, behandelt das „Nichtdiskriminierungsrecht“ (§ 5), Privatdozentin Judit Bayer, Münster, das „Medienrecht“, Benedikt Quarch und Stella Thomaos, Düsseldorf/Frankfurt am Main behandeln „Verbraucherrecht“ (§7), Rechtsanwalt Marc Bohlen, Hamburg, das „Lauterkeitsrecht“ (§ 8), Hans Stege, Wolfsburg, und Lucia Franke, Frankfurt am Main, „Haftungsrecht/Product Compliance“ (§ 9), Johann Justus Vasel, HHU Düsseldorf das „Sicherheitsrecht“ (§ 10) und Rechtsanwältin Melanie Epe, Düsseldorf, das „Strafrecht“ (§ 11).
Hat man im zweiten Teil zumindest die unstreitigen und zum Teil problematischen Berührungspunkte der generativen KI mit der Rechtsordnung insgesamt kennengelernt, so wendet Teil 3 das Ganze ins Positive und zeigt „Anwendungsfelder“ auf.
Es beginnt Rechtsanwalt Tom Braegelmann, Berlin, mit dem Thema „Prompting in der juristischen Praxis“ (§ 12). Darin zeigt er anhand von Praxisbeispielen, wie Anwälte agieren müssen, wenn sie eine KI programmieren wollen, um etwa eine Gerichtsentscheidung für ein Schriftsatzzitat, eine Sachverhaltszusammenfassung, die Zusammenfassung einer rechtlichen Begründung, wie auch Aufgaben der Erläuterung und Kontextualisierung sowie eine juristische Differenzanalyse zu erhalten. Der bekannte Legal-Tech-Profi Braegelmann arbeitet ausdrücklich nicht nur mit ChatGPT (Version 4.0), sondern auch mit dem Konkurrenzprodukt „Claude“ und vergleicht am Ende jeweils die Ergebnisse beider Programme. Ein kleines Zitat aus dem „verhalten optimistischen“ Fazit: „Ein Chatbot ist ein Wesen, das sprechen kann ohne zu denken und argumentieren ohne zu verstehen.“ (Rdnr. 78, Spiegelstrich 1). Denken wir darüber einmal nach!
Martin Ebers kehrt noch einmal zurück und diskutiert „Erbringung von Rechtsdienstleistungen durch LLMS“ (§ 13) und behandelt hier insbesondere die Zulässigkeit von Large Language Models vor dem Hintergrund des Rechtsdienstleistungsgesetztes. Rechtsanwalt Jakob Horn, Berlin, fokussiert auf „Large Language Modells und Prozessführung“ (§ 14), Rechtsanwalt Philip Eder, München, auf „Rechtsschutzversicherungen“ (§ 15).
Rechtsanwalt Tianyu Yuan, Heidelberg beschreibt die „Gerichtliche Entscheidungsfindung mithilfe generativer Sprachmodelle“ (§ 16), Rechtanwalt Pierre Plottek, Bochum, wirf einen Blick in das „Notariat“ (§ 17), die Syndikusanwältin Patricia M. Batista, Frankfurt am Main, untersucht die Anwendungsmöglichkeiten im „Arbeitsrecht“ (§ 18), Rechtsanwalt Oliver C. Ehrmann, Berlin, schaut auf die „Steuern“ (§ 19), und abschließend Jan Eichelberger von der Uni Hannover auf das „Medizinrecht“ (§ 20).
Was soll man hierzu abschließend sagen?
Der Band bietet reiches Anschauungsmaterial für den praktischen Einsatz einer neuen Technologie mit großem Potential und verschweigt dabei die Rechtsprobleme und den bleibenden Anpassungsbedarf – etwa beim RDG – nicht. Aufgezeigt wird auch, dass weiter an der Technik geforscht wird, etwa was den Ressourcenverbrauch angeht.
In einer Zeit, in der wir nicht nur seit etwa 15 Jahren von einem ubiquitären Fachkräftemangel sprechen, sondern wo DIE ZEIT in einem aktuellen Artikel vom 30. April (S. 29 f., u. d. T. „Ein Buch lesen? Ganz?!“) auch darüber schreibt, dass selbst Universitätsstudierende keine Bücher mehr lesen und sie somit auch nicht verstehen (Wann geht uns eigentlich als Gesellschaft das geflügelte Wort vom Henne-Ei-Problem mangels realer Anschauung und Praxis verloren?), wird man wohl auch sagen müssen: Für KI-basierte Sprachmodelle besteht ein Markt. Und dessen Wachstum ist prinzipiell unbegrenzt. Leider!
Ebers / Quarch
Rechtshandbuch ChatGPT. KI-basierte Sprachmodelle in der Praxis
Nomos Verlag, 1. Auflage 2025
500 Seiten; 69,00 Euro
ISBN: 978-3-7560-1285-5