Flöten, Harfen, Chöre

Björk live auf „Cornucopia“

Thomas Claer

Wenn man als Musik-Rezensent über eine neue musikalische Veröffentlichung schreibt, dann sollte man sie sich zuvor schon mindestens einige Male aufmerksam angehört haben, denn mit jedem erneuten Hördurchgang entdeckt man für gewöhnlich etwas, das einem zuvor noch nicht aufgefallen ist. Außerdem ist man ja auch nicht immer in der gleichen Stimmung, und so manches Lied klingt einem – je nach Tagesform und Laune – heute vielleicht so und morgen womöglich schon ganz anders. Jedenfalls bei mir gilt das Prinzip, dass ich eine CD schon wenigstens fünfmal durchgehört haben muss, um über sie schreiben zu können. Normalerweise. Bei „Cornucopia“ (lateinisch für Füllhorn), dem neuen Live-Doppelalbum der isländischen Pop-Göttin Björk, ist das aber anders. Denn nach gerade einmal zweieinhalb Laufzeiten im CD-Player bin ich mir bereits absolut sicher, dass sich auch nach fünf oder zehn oder noch mehr Anhörungen nichts Wesentliches mehr an meinem aktuellen EIndruck ändern würde, weshalb ich also bereits jetzt zur Tastatur greife. Über die Qualität dieser Musik ist damit wohlgemerkt noch rein gar nichts  gesagt. Nein, hier sind zunächst ganz andere Kategorien zu verhandeln.

Ein Live-Album von Björk also – hat es das überhaupt schon mal gegeben? Mit etwas Nachdenken kommt man sogar auf eine Live Box, die sie vor 22 Jahren mal herausgebracht hat, mit jeweils einer Live-Versions-CD ihrer vier ersten Alben Debut (1993), Post (1995), Homogenic (1997) und Vespertine (2001). Darunter machte sie es nicht. Und insofern erscheint es auch in gewisser Weise konsequent, dass sich nun auf dem aktuellen Live-Doppler fast keine Songs aus ihren frühen Jahren finden lassen. Nur „Isobel“ (von „Post) sowie „Hidden Place“ und „Pagan Poetry“ (beide von „Vespertine“) erinnern überhaupt noch an ihre Vergangenheit als fröhliche Popsirene. Stattdessen stammen fast alle Songs auf „Cornucopia“ aus den – gob gesagt – letzten zwei Jahrzehnten, in denen sich Björk zur reichlich obskuren Diva mit immer unzugänglicheren Veröffentlichungen gewandelt hat. Ihre alten Fans haben ihr mutmaßlich fast alle die Treue gehalten, auch wenn wohl der Verdacht nicht aus der Luft gegriffen ist, dass sich die meisten eventuell auch ein paar zugänglichere Klänge von ihr gewünscht hätten. Aber Björk macht, was sie will, weil sie es kann. Ihre Anhänger fressen ihr gewissermaßen aus der Hand und schlucken auch, ohne zu murren, all ihre reichlich experimentellen Kompositionen. Ein besonders sperriges Album von ihr, mit dem wohl wirklich niemand so richtig warm wurde, ist „Utopia“ von 2017 – durch und durch seltsam mit vorwiegend Flöten, Harfen und Chören. Ausgerechnet von diesem Werk stammt nun aber exakt die Hälfte der Songs auf ihrer neuen Live-Platte (nämlich 11 der insgesamt 22 Songs). Das muss man bzw. frau sich erstmal trauen!

Dennoch gibt es so manches, das auch für „Cornucopia“ spricht. Wer Björks Gesangsstil verehrt, der wird auch inmitten aller Seltsamkeiten noch seine Freude daran haben. Und vielleicht ist es ja nur meine subjektive Wahrnehmung, aber dass Björk mit ihrem Gesang auch noch als mittlerweile 59-Jährige eine Erotik versprüht, die ihresgleichen sucht, sollte auch einmal gesagt werden. Das Urteil lautet daher: ohne Bewertung. Und übrigens gibt es „Cornucopia“ auch noch als Film.

Björk
Cornucopia Live
One Little Independent, 2025
ASIN: B0FK19B5NZ

Veröffentlicht von on Dez. 1st, 2025 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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