Der Roman zum Londoner Immobilien-Hype: „Kapital“ von John Lanchester
Muna Terlinden
John Lanchester schildert in seinem Buch „Kapital“ das Leben in der Londoner Pepys Road in den Jahren vor dem Ausbruch der Finanzkrise. Auf den ersten Seiten wird die anfangs noch einfache Wohnsiedlung beschrieben, die sich mit der Zeit jedoch zu einer angesagten und beliebten Wohngegend entwickelt hat. Die Immobilien haben mittlerweile einen beträchtlichen Kapitalwert.
Petunia, die älteste Bewohnerin der besagten Straße, lebt ein mehr oder weniger einsames Leben, nachdem der Tod ihres Ehemannes ihre emotionale Abhängigkeit von diesem gelöst hat. Gelegentlich erhält sie Besuch von ihrem Enkel. Es ist ein einfaches und scheinbar auch zufriedenes Dasein, das sie so fristet. Daher denkt sie sich zunächst nichts weiter, als eines Tages eine Postkarte mit der Nachricht „Wir wollen, was ihr habt“ eintrifft. Roger, ein reicher Geschäftsmann und ebenfalls Bewohner der Pepys Road, beschäftigt sich überwiegend mit einer heiß ersehnten Provision, die allerdings hoch genug ausfallen sollte, um sein nicht unbedingt bescheidenes Leben weiterhin bestreiten zu können. Schließlich möchte er die unendlichen Wünsche seiner Ehefrau finanzieren.
Quentina, eine in England (illegal) lebende Politesse, hat mir besonders gut gefallen. Trotz ihrer Situation nimmt sie das Leben, wie es eben ist. Gleichzeitig ist sie eine Kämpfernatur, die nicht so schnell aufgibt. Für den schließlich ebenfalls in dieser Straße lebenden Freddy Kamos ist ein Traum in Erfüllung gegangen, als ein Fußballverein ihn unter Vertrag nimmt und ihm so ein Leben in London ermöglicht. Freddy wird von seinem Vater, Patrick, begleitet. Darüber hinaus beschreibt John Lanchester noch weitere Persönlichkeiten, die in der Pepys Road wohnen und mit Glück, Geld, Sicherheit, Liebe, Ängsten etc. zu kämpfen haben. Alle Bewohner erhalten die besagte Postkarte und reagieren unterschiedlich auf die Aussage.
Aber was taugt nun dieses Buch, das die Feuilletons als „großen Gesellschaftsroman“ unserer Tage gerühmt haben? Immerhin, es liest sich durchgängig gut, obwohl es zeitweise etwas langatmig wird und es ihm auch über weite Strecken an Spannung fehlt. Doch ist das nicht verwunderlich, da die Protagonisten kapitelweise beschrieben werden und eine typische Handlung fehlt. Auch ist kein wirklicher Zusammenhang zwischen all den Erzählsträngen erkennbar, und das Ende der Geschichte ist (jedenfalls für mich) ganz und gar nicht zufrieden stellend.
Jedoch hat mich das Buch sehr nachdenklich gestimmt, da ich den Eindruck bekam, dass John Lanchester hier ein ganz bestimmtes Bild der englischen Gesellschaft vermitteln wollte: Auf der einen Seite all jene Menschen, die im Reichtum schwelgen, die nie genug kriegen und niemals zufrieden sind. Und auf der anderen Seite die hart arbeitenden und überaus fleißigen Migranten. Aus meiner Sicht ist das leider nicht ganz so einfach, obwohl ich diese Einschätzung gut nachvollziehen kann.
Alle, die dem Thema etwas abgewinnen können, mögen bei „Kapital“ zugreifen. Allerdings werde ich es kein zweites Mal lesen, da die Geschichte von einem unwissenden Leser lebt. Einmal gelesen, wird es schwierig sich durch die Kapitel zu kämpfen, da der Spannungsbogen einfach fehlt.
John Lanchester
Kapital
Klett-Cotta 2012
682 Seiten, 24,95 EUR
ISBN-10: 3608939857