Alles ist zyklisch

Der FinanzBuch Verlag druckt das Frühwerk des Börsen-Experten Robert Rethfeld und seines Mitstreiters Klaus Singer „Weltsichten – Weitsichten“ nun immerhin wieder auf Bestellung

Thomas Claer

cover-e-books-weltsichtenManchmal werden schwer greifbare Nebenwerke semiprominenter Autoren mit eher speziellem Inhalt allein durch ihre Knappheit zu regelrechten Kultbüchern, ganz ähnlich wie wir es etwa von bestimmten Popmusik-Schallplatten kennen. Auch für die „Weltsichten – Weitsichten“ von Robert Rethfeld, dem Betreiber des inzwischen recht erfolgreichen Finanzmarkt-Onlineportals www.wellenreiter-invest.de, und seinem Co-Autor Klaus Singer aus dem Jahr 2004 musste man bisher beim antiquarischen Erwerb schon etwas tiefer in die Tasche greifen. Doch seit Ende 2012 bietet der FinanzBuch Verlag das Werk in einer broschierten Ausgabe wieder an. Bei Nachfrage erfährt man dann allerdings, dass es nur auf Bestellung gedruckt wird. Aber immerhin. Neugierig beginnt man also die Lektüre am Computerbildschirm, um bald wenig überrascht festzustellen, dass der immer wieder so originelle und verblüffende Ansatz des Wellenreiters hier bereits, um es in seiner typischen Diktion zu sagen, antizipiert wird. Eine ganz eigentümliche Weltsicht tut sich in diesem Buch auf: die Interpretation alles wirtschaftlichen und politischen Geschehens als Abläufe von Entwicklungszyklen.

Im ersten der drei Teile des Buches erfolgt eine Analyse der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Es geht um Bevölkerungswachstum, die globale Erwärmung, den Arbeitsmarkt in der Dauerkrise bis hin zu Themenfeldern wie „Korpulenz und Konsum“ oder den steigenden Selbstmordraten. Das muss man heute, fast zehn Jahre nach dem Erscheinen, nicht mehr unbedingt so genau lesen. (Gleichwohl finden sich dort etliche aufschlussreiche Passagen, etwa über den Zusammenhang von Wirtschaftsentwicklung und Stilepochen.)  Viel interessanter sind aber die beiden anderen Teile. Ausgesprochen geschichtsphilosophisch wird es im zweiten Teil „Was die Welt bewegt“. Schon immer wollten die Menschen – und das aus ganz unterschiedlichen Motiven – die Zukunft voraussehen können und suchten nach Gesetzmäßigkeiten, die dem Lauf der Welt zugrunde liegen. Dass es hier kein sicheres Wissen geben kann, ist nach dem fast globalen Zusammenbruch des Staatskommunismus zwar Allgemeingut geworden. Doch gäbe es nicht immer wieder bestimmte Wahrscheinlichkeiten, sich häufig wiederholende Entwicklungsmuster, die Fortsetzung bereits begonnener Trends und Zyklen, so wäre es unmöglich, mit einer darauf basierenden Strategie an den Finanzmärkten eine nennenswerte „Outperformance“ zu erzielen. Robert Rethfeld ist mit seinen vielfach treffsicheren Prognosen der lebende Beweis dafür, dass der Blick in die Glaskugel gelingen kann. Doch was vielleicht die größte Überraschung des Buches ist: Neben den erwarteten einschlägigen Theorien von Charles Dow (dem Begründer der Charttechnik; nach ihm ist der amerikanische Aktienindex benannt), Ralph Nelson Elliott (dem Schöpfer der gleichnamigen Wellen-Theorie) und Nikolai Kondratjew (der die nach ihm benannten wirtschaftlichen Groß-Zyklen begründete), kommt sehr ausführlich ein Denker zu Wort, den man im erzkapitalistischen Metier der Kapitalmarktvorhersage eher weniger erwartet hätte: nämlich Karl Marx. „Für das Verständnis heutiger wirtschaftlicher Entwicklungen sind Kenntnisse über den von Marx geprägten dialektischen Materialismus und seine politische Ökonomie äußerst nützlich“, heißt es schon im Vorwort. Und weiter hinten im Buch wird es konkret: „Drei entscheidende Gesetze, die dem Kapitalismus innewohnen“ habe die Marxsche politische Ökonomie herausgearbeitet: den tendenziellen Fall der Profitrate, die Tendenz zur Akkumulation des Kapitals und die Rolle des „fiktiven Kapitals“. Im übrigen sei hier daran erinnert, dass  Karl Marx auch ein tüchtiger Börsenspekulant war; ein Umstand, dem er immerhin sein Häuschen in London verdankte, was im Lichte dieses Buches gesehen wohl auch kein Zufall war.

Überhaupt kommen bei Rethfeld und Singer gerade jene Denker besonders gut weg, die der kritische Rationalist Karl R. Popper in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ als „orakelnde Geschichtsphilosophen“ verdammt und bekämpft hat: Oswald Spengler, Arnold Toynbee und eben Karl Marx. Hervorzuheben ist aber die völlig unideologische Herangehensweise der beiden Verfasser: Sie greifen sich aus dem Werk der genannten, z.T. durchaus unter Ideologieverdacht stehenden Autoren einfach (nur) das heraus, was sie für ihre Zwecke brauchen können. Andererseits offenbaren sich dem Leser dann aber auch oftmals ungeahnte Zusammenhänge: So geht Elliotts Wellenprinzip auf die Zahlenreihe nach Leonardo Fibonacci zurück, die dieser im 13. Jahrhundert auf der Suche nach einer Regel für die Kaninchenfortpflanzung entdeckt haben soll. Ein neues Mitglied der Zahlenreihe ergibt sich jeweils durch Addition seiner beiden Vorgänger. „Außerdem tendiert das Verhältnis einer Zahl zur nächsthöheren mit fortschreitendem Rang immer mehr in Richtung der Zahl Phi (0,618).“ Diese wiederum und ihr Kehrwert (1,618), die schon lange vor Fibonacci bekannt waren, spielen beim „Goldenen Schnitt“ eine wichtige Rolle, der das menschliche Harmonie- und Schönheitsempfinden maßgeblich beeinflusst. Heute benutzen Chart-Theoretiker die „Fibonacci-Spiegelung“ zur Projektion vergangener Kursverläufe auf die Zukunft, was dem in der modernen Chaos-Theorie postulierten Prinzip der Selbstähnlichkeit komplexer Strukturen entspricht. Und schließlich: „Das Prinzip der Selbstähnlichkeit findet ebenfalls in der assoziativen Art des Menschen, Schlüsse zu ziehen, eine Entsprechung.“ Das kann man wohl sagen!

Schließlich handelt der dritte Teil des Buches von den jeweils separat vorgebrachten Zukunftsszenarien der beiden Autoren, die einander durchaus punktuell widersprechen. Man muss ihren Mut zur ganz konkreten Prognose herausstellen, denn das Risiko, dabei auch mal grundfalsch zu liegen, ist so natürlich besonders groß. Umso bemerkenswerter ist es, dass beide Autoren bereits im Jahr 2004 die große Finanz- und zwischenzeitliche Weltwirtschaftskrise kommen sahen, die wir seit 2007 erleben. Bei Singer heißt es auf S. 301: „Die nähere Zukunft bringt also eine auf breiter Front nachlassende wirtschaftliche Dynamik. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine schwere Finanzkrise näher rückt – in zeitlicher und geographischer Hinsicht.“ Rethfeld schreibt auf S. 331 in seinem Rückblick aus dem Jahr 2015: „Blickt man auf die ersten 15 Jahre des 21. Jahrhunderts zurück, so muss man diese Zeit als einen bedeutenden Wendepunkt der Menschheitsgeschichte einstufen. Zwei Ereignisse, die sich lange angekündigt hatten, trafen viele Menschen dennoch unvorbereitet. Sie mussten erstens lernen, dass die Förderung der fossilen Brennstoffe Erdöl und Erdgas den steigenden Bedarf nicht mehr decken konnte; die Folge war eine Energiekrise. Doch noch viel stärker machte sich – zweitens – eine den Globus umspannende Finanzkrise bemerkbar. Ausgangspunkt waren die USA und dort spezifisch der US-Dollar. Beide Ereignisse führten zu schweren Verwerfungen in Wirtschaft und Gesellschaft.“ Die Energiekrise ist uns bislang noch erspart geblieben…

Abschließend noch ein Blick zurück aus dem Jahr 2030, in das sich Robert Rethfeld mal eben gebeamt hat: „Der große Bären-Markt der ersten beiden Dekaden dieses Jahrhunderts ist Vergangenheit. Die weltweite Währungsreform sowie die neuen Entwicklungen besonders im Energiesektor treiben einen neuen Bullen-Markt. Neue Unternehmen und Technologien sind entstanden. Dieser Bullen-Markt ist in erster Linie – aber nicht ausschließlich – ein asiatisches Phänomen. Kreative Kräfte aus Shanghai und Bombay entwickeln und leisten Erstaunliches, geschürt durch die weltweit führenden Finanzzentren eben jener Städte. Seit der weltweiten Finanzkrise Ende des ersten Jahrzehnts hat New York seine Pole-Position an Schanghai abgeben müssen.“ Das ist gut zu wissen.

Robert Rethfeld / Klaus Singer
Weltsichten – Weitsichten
FinanzBuchVerlag 2012 (Reprint von 2004)
358 Seiten, broschiert, EUR 29,99
ISBN-10: 3898797678

Justament-Rezensent Thomas Claer ist Autor des Buches „Auf eigene Faust. Aktiensparen für Kleinanleger“, BoD 2012, 132 Seiten, EUR 10,00, ISBN 978-3844818147.

Veröffentlicht von on Jun. 17th, 2013 und gespeichert unter DR. CLAER EMPFIEHLT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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