„Die Natur des Rechts“ von Eric Vöglin erweist sich als schwere Kost
Jochen Barte
Vielleicht sind Sie, lieber Leser, ein gestresster Jurist, der sich ein wenig vom anstrengenden Geschäft mit den Paragrafen erholen möchte – das soll ja gelegentlich vorkommen heutzutage. Sie beschließen daher an einem sonnigen Nachmittag ihr Tagewerk ruhen zu lassen, um sich ein wenig Müßiggang zu gönnen – Zeit zum Nachdenken zu haben. Sie verlassen also vorzeitig Ihr Büro oder Ihre Kanzlei und schlendern gut gelaunt durch eine Ihnen wohlvertraute Umgebung. Plötzlich entdecken Sie ein altes, verfallenes Haus, das Sie vorher noch nie bemerkt hatten. Das Haus ist herrschaftlich, aber man sieht ihm seine Jahre an. Als Sie näher herantreten, öffnet sich eine der vielen Türen und ein alter Mann mit wehenden Haaren tritt heraus. Er ist in ein offenbar sehr erregendes Selbstgespräch vertieft und geht grußlos an Ihnen vorüber. Sie rufen dem Alten zu, ob er Ihnen nicht das Haus zeigen könne, es sei doch sicher viel Interessantes zu erfahren. Da bleibt der Alte stehen, blickt Sie scharf an und bedeutet Ihnen schließlich mit einer mürrischen Geste, ihm zu folgen. Sogleich vertieft er sich wieder in sein Selbstgespräch, von dem Sie nur hin und wieder einige Begriffe aufschnappen, deren Bedeutung Sie aber nicht kennen. Der Alte führt Sie zunächst um das Haus herum und Sie entdecken einen prächtigen Park in dem die Büsten der Ahnen des Hauses Ehrfurcht gebietend thronen. Der Alte kümmert sich jedoch nicht groß darum, bisweilen nur hält er kurz inne, zischt böse durch seine Zahnlücken und strebt dann unaufhaltsam einem Nebentrakt entgegen. Sie treten hinzu und lesen, was über der prächtig verzierten Pforte in Stein gemeißelt geschrieben steht: „Eingang zur Natur des Rechts“.
Jetzt sind Sie gefordert, lieber Leser, denn so oder so ähnlich muss man sich Eric Vöglins Buch „Die Natur des Rechts“, vorstellen – als eine Entdeckungsreise im altehrwürdigen Haus der Philosophie. Vöglins erklärtes Ziel ist es dabei, jenseits jeglichen rechtspositivistisch gesicherten Grundes der transzendenten Natur des Rechts nachzuspüren. Also eine immanente Struktur, ein Substrat dingfest zu machen, das das Wesen des Rechts ausmacht . Ein Unterfangen, das man durchaus euphemistisch als äußerst ehrgeizig bezeichnen kann. Denn es kommt der Suche nach dem Heiligen Gral der Jurisprudenz ziemlich nahe.
Wer sich nun hier vom raunenden metaphysischen Gemurmel des Alten betören lässt, der mag getrost eintreten und etwas über die Geschichte der Ahnen erfahren, vielleicht gelingt es ihm auch, dessen verschlungenen Gedankengängen zu folgen – zumal am Ende der Reise noch in Gestalt eines Nachwortes von Thomas Nawrath, einem Rechtsphilosophen, ein wenig mehr Klärung zu erhoffen ist. Ob Vöglin den Heiligen Gral tatsächlich gefunden hat, das muss der Leser dann am Ende selbst entscheiden. Wer dagegen Einsturzgefahr in einem windschiefen Haus befürchtet, der sollte besser draußen bleiben – und das schöne Wetter genießen.
Eric Vöglin
Die Natur des Rechts
Matthes und Seitz, Berlin 2011
219 Seiten, 24,90 EUR
ISBN-10: 3882216174
Was ist nun der Antrieb dafür, daß der Naturzustand und der Krieg aller gegen alle überwunden wird, die Menschen ihr Recht aller auf alles abgeben und die Gültigkeit der Naturgesetze anerkennen? Was bewegt sie dazu, ihre absolute Freiheit und ihr Machtstreben aufzugeben, welcher Antrieb verhilft der schwachen Vernunft zum Sieg? Oben wurde es schon angedeutet: Die absolute Freiheit eines jeden führt zum Krieg aller gegen alle, dieser ist ein elender Zustand, der ständig drohende, gewaltige Gefahren und daher die Furcht mit sich bringt. Die Menschen erkennen bald, daß es ihrer Selbsterhaltung, die ihnen hauptsächlich am Herzen liegt, förderlicher ist, ihr Recht auf alles aufzugeben (vorausgesetzt, die anderen tun es auch), den Krieg aller gegen alle zu beenden und künftig in Frieden zu leben unter Anerkennung der Naturgesetze. Sie sehen auch ein, daß deren Einhalt nur von einem starken Staat garantiert werden kann, an den sie ihre Rechte gemeinsam übertragen.