Dieter Grimm aktualisiert seine Betrachtungen zur Europäischen Integration
Matthias Wiemers
Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm (Jg. 1937) kann seit vielen Jahren als besonders ausgewiesen sowohl in der Verfassungstheorie wie auch in Fragen der Verfassungsmäßigkeit einer weiteren europäischen Integration gelten. Von Zeit zu Zeit legt er Sammlungen seiner an verschiedenen Stellen – nicht zuletzt auch in überregionalen Tageszeitungen – veröffentlichten Beiträge vor, wobei der jetzt bei Beck erschienene Band der einzige ist, der sich ausschließlich mit der Europäischen Integration und ihrem Verhältnis zu Deutschland auseinandersetzt.
Grimms europabezogene verfassungsrechtliche und rechtspolitische Positionen sind nicht wirklich neu. Im Wesentlichen knüpft in diesem Band an seine Beiträge im vorletzten Abschnitt des vor 15 Jahren (ebenfalls bei Beck) erschienenen Bandes „Die Verfassung und die Politik“ an, hat aber seine Positionen verfeinert und weiter ausgebaut und knüpft selbstverständlich an jüngste Entwicklungen im europäischen Einigungsprozess an.
Nicht nur im Titel des Buches, sondern auch in den meisten der insgesamt zwölf abgedruckten Texte aus den Jahren 2009 bis 2015 wird zu Recht die Frage der Finalität der europäischen Integration aufgeworfen: Soll es tatsächlich die Vereinigten Staaten von Europa geben?
Grimm schildert, wie der EuGH in den 1960er Jahren den Anwendungsvorrang des europäischen Rechts entwickelte, berichtet über den Amerikaner Joseph Weiler, der in den Siebzigern die Konstitutionalisierung der europäischen Rechts und der Europapolitiken „entdeckt“ habe, erklärt die Einheitliche Europäische Akte von 1986 als den Beginn des europäischen Demokratieproblems und weist überzeugend die Vorstellung vieler „EU-Reformer“ zurück, wonach eine Stärkung der Kompetenzen des EU-Parlaments dieses Demokratieproblem lösen könne. Der Leser lernt in prägnanter Form noch einmal, was Souveränität sein kann – jedenfalls auch ein wichtiger Ausgangspunkt für europarechtliche Überlegungen.
Sinnvollerweise schlägt Grimm vor, die EU zu politisieren, indem das Primärrecht um den AEUV entschlackt wird und die darin geregelten Details entkonstitutionalisiert würden. Enthalten ist auch Grimms wichtiger Beitrag in der FAZ kurz nach und zum Lissabon-Urteil des BVerfG, in dem er ausdrücklich die zahlreichen im Urteil enthaltenen obiter dicta rechtfertigt. Hierzu ein kurzes wörtliches Zitat. „Obiter dicta gelten gewöhnlich als richterliche Untugend. Angesichts der politischen Untugend, die Frage nach der Finalität der europäischen Integration zu meiden, dessen ungeachtet aber Schritte zu tun, die sie präjudizieren, erscheint das Urteil jedoch in einem anderen Licht“ (S. 255).
Kritisch muss angemerkt werden, dass hier wohl etwas weniger mehr gewesen wäre. Zwar werden die Themenstellungen immer wieder variiert, und der Autor gewinnt dem Thema immer wieder neue Aspekte ab, aber man hätte sicherlich auf mehrere Beiträge beim Abdruck verzichten können, um die Verbreitung eines dann dünneren Bandes damit letztlich zu fördern. Denn eines wird man wohl sagen müssen: Dieses Buch und die darin enthaltenen Positionen verdienen eine weite Verbreitung. Denn die Autorität des Gelehrten Grimm kann verhindern helfen, dass berechtigte Kritik an einer unkontrollierten, demokratisch nicht rückgekoppelten und innergesellschaftlich nicht diskutierten Europapolitik – neuerdings gerne unter Verweis auf Positionen der AfD – von politischen Mandatsträgern und anderen zurückgewiesen und ehrliche Debatten unterdrückt werden. Für den juristischen Nachwuchs, der in Zeiten einer ständigen Expansion der EU in räumlicher und rechtlicher Hinsicht aufgewachsen ist, bietet der Band die Möglichkeit, die Entwicklung des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht zum Verfassungsrecht in sechs Jahrzehnten nachzuvollziehen. Das Buch kann gut neben einer entsprechenden Vorlesung gelesen werden und wird den Leser befähigen, zu entscheiden, ob der Dozent die europäische Integration wohl mit der notwendigen Distanz lehrt oder eher auch zu den EU-Enthusiasten zu rechnen ist.
Dieter Grimm
Europa ja, aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie
Verlag C. H. Beck 2016
287 S., 24,95 Euro
ISBN 978-3-406-68869-0