China: Nobelpreisträger kommt aus gesundheitlichen Gründen „auf Bewährung“ frei
Martin Lessenthin
Der prominente chinesische Schriftsteller, Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo (im chinesischen: 刘晓波, geboren am 28. Dezember 1955), wurde am 25. Dezember 2009 zu elf Jahren Haft verurteilt. Der Pekinger Volksgerichtshof befand Lius Einsatz für die Demokratisierung seines Landes als „Aufwiegelung zum Sturz der Regierung und des sozialistischen Systems“. Liu Xiaobo war maßgeblich an der Erarbeitung der „Charta 08“ (零八宪章) beteiligt – einem Manifest, das in Anlehnung an die tschechoslowakische „Charta 77“ zu politischen Reformen und Demokratie in der Volksrepublik China aufruft und bereits von mehr als 10.000 chinesischen Bürgerrechtlern und Intellektuellen unterzeichnet wurde. Aufgrund seiner Beteiligung an den Pekinger Studentenprotesten, die 1989 auf dem Tiananmen-Platz blutig niedergeschlagen wurden, saß Liu bereits früher für mehrere Jahre im Gefängnis.
Am 8. Oktober 2010 verkündete das Nobelpreiskomitee, das Liu Xiaobo wegen seines langfristigen Engagements für Menschenrechte mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Die chinesische Regierung reagierte nach der Bekanntgabe mit teils heftigen Verbalattacken gegen den Preisträger und das norwegische Nobelpreiskomitee.
Am 26. Juni 2017 wurde Liu aus gesundheitlichen Gründen zur medizinischen Behandlung aus dem Gefängnis entlassen. Im Mai 2017 wurde bei ihm eine Leberkrebserkrankung im Endstadium festgestellt. Hoffnung auf Heilung besteht nicht.
Zur Person
Liu Xiaobo wurde am 28. Dezember 1955 in der nordostchinesischen Stadt Changchun, Provinz Jilin geboren. Während der Kulturrevolution wurde er von 1969 bis 1973 mit seinen Eltern zu Landarbeiten in eine Volkskommune in die Innere Mongolei zwangsverschickt. 1982 schloss er einen Bachelor im Fachbereich Literatur an der Universität Jilin ab. Danach wechselte Liu an die Pädagogische Universität Peking, wo er als Doktorand tätig war und 1988 einen Doktortitel in Literatur erlangte. In den darauffolgenden Monaten sammelte der Schriftsteller Auslandserfahrungen, indem er eine Reihe von ausländischen Universitäten besuchte, wie z.B. die Universität Oslo und die Columbia Universität in New York. Liu befand sich wegen seines Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte mehrmals in Haft.
Während seiner dritten Inhaftierung, die er von 1996 bis 1999 in einem Zwangsarbeitslager verbüßte, heiratete er seine Ehefrau Liu Xia. (劉霞)
Frühere Verurteilungen
Im Sommer 1989 beteiligte sich Liu aktiv an der von Studenten ausgehenden Demokratiebewegung, indem er Schriften veröffentlichte, in denen er das bestehende Ein-Parteien-System kritisierte und eine weitgehende Demokratisierung Chinas einforderte. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz am 4. Juni 1989 verteidigte Liu nachdrücklich die Studentenbewegung und forderte vehement die Aufklärung des brutalen Vorgehens des Staates, das wahrscheinlich den Verlust von über tausend Menschenleben zur Folge hatte. Sein Engagement für die Opfer kostete ihn erst seine Stelle als Dozent an der Pädagogischen Universität Peking und führte zu seiner ersten Inhaftierung. Ohne formelles Urteil befand er sich zwanzig Monate in Haft. 1991 kam er frei. Unmittelbar danach wurde Liu von einem chinesischen Gericht der „konterrevolutionärer Propaganda“ und „Aufwiegelung“ für schuldig befunden. Allerdings verzichteten die Richter damals darauf, ihn zu einer weiteren Haftstrafe zu verurteilen.
Unbeirrt setzte sich Liu Xiaobo in den darauffolgenden Jahren weiterhin für die Demokratisierung seines Landes ein. Das brachte ihm im Mai 1995 erneut eine Inhaftierung ein – ohne einen ordentlichen Prozess saß er bis Januar 1996 im Gefängnis. Schon kurz nach seiner Freilassung im Oktober 1996 wurde Liu erneut verhaftet und wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu drei Jahren Haft im Zwangsarbeitslager verurteilt. Nach seiner Freilassung 1999 entschied sich Liu Xiaobo trotz anhaltender Verfolgung dafür, in seiner Heimat zu bleiben und als Schriftsteller weiter für mehr Freiheit in China zu kämpfen. Mit dem Beginn des Online-Zeitalters in China und der Errichtung der sogenannten „Great Firewall“, einem komplexen chinesischen Internetkontrollapparat, griff Liu verstärkt das Thema Zensur auf. Gleichzeitig wusste er das neue Medium zur Verbreitung seiner Schriften zu nutzen.
Sein Engagement für Freiheit und Menschenrechte wurde zunehmend honoriert. Im November 2003 wurde Liu Xiaobo zum Präsidenten des „Independent Chinese Pen Center“, dem unabhängigen chinesischen PEN-Club, gewählt. 2004 zeichneten ihn „Reporter ohne Grenzen“ für seinen Einsatz für Pressefreiheit aus.
Charta 08
Die „Charta 08“ sollte ursprünglich am 10. Dezember 2008 – dem Tag der Menschenrechte und dem 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – veröffentlicht werden. Nach Auffassung der IGFM versuchten die Sicherheitskräfte dies zu verhindern, indem sie Liu Xiaobo kurz davor, am 8. Dezember 2008, gewaltsam in seiner Wohnung festnahmen. Nach seiner Verhaftung wurde Liu über ein Jahr lang ohne formelle Anklage an einem für die Weltöffentlichkeit und seine Familie unbekannten Ort gefangen gehalten. Lediglich am 1. Januar 2009 durfte ihn seine Ehefrau Liu Xia im Beisein von zwei Polizisten kurz sehen. Am 29. Dezember 2009 ging Liu Xiaobo gegen das Urteil des Volksgerichtshofs in Berufung. Das 13-seitige Dokument war das erste Schriftstück das Liu nach über einem Jahr verfasst hatte. Nach Worten seiner Ehefrau, durfte Liu während seiner Haftzeit aus Schikane nichts schreiben und auch kaum was lesen. Über seinen Anwalt Shang Baojun ließ er jedoch verlauten, dass [seiner Ansicht nach] „keine große Chance besteht, dass das Urteil geändert wird“. Trotz massiver internationaler Kritik bestätigten die chinesischen Richter am 11. Februar 2010 die Verurteilung Lius zu einer elf-jährigen Gefängnisstrafe.
Repressalien gegen Mitstreiter
Neben Liu Xiaobo wurden von den 303 Erstunterzeichnern der „Charta 08“ noch mindestens 70 weitere Repressalien der chinesischen Behörden ausgesetzt. Sie wurden regelmäßig zu Verhören vorgeladen, ihnen wurden zusätzliche Strafmaßnahmen angedroht. Von Verhaftungen nahmen die chinesischen Sicherheitskräfte anfangs noch Abstand. Am 15. Januar 2010 änderte sich dies mit der Meldung über die Verhaftung des Charta 08 Erstunterzeichners Zhao Zhiying von seiner Ehefrau Shi Xiaoli. Zhao Zhiying, der auch unter dem Pseudonym Zhao Dagong schreibt, ist Generalsekretär des „Independent Chinese Pen Center“, was womöglich den Behörden ein Dorn im Auge war. Polizisten verhafteten den Schriftsteller in seiner Wohnung in Shenzhen und beschlagnahmten Computer, Bücher und Dokumente.
Zhaos Ehefrau Shi Xiaoli und der Sohn des Ehepaares wurden ebenfalls festgenommen, nach einigen Stunden aber wieder freigelassen. Das hohe Strafmaß gegen Liu Xiaobo vom 25.12.2009 schockierte und empörte große Teile der Weltöffentlichkeit. Bundeskanzlerin Angela Merkel und weitere Vertreter der EU, der USA und der UN sowie namhafte Autoren wie Salman Rushdie, Václav Havel, Margaret Atwood oder Ha Jin (哈金) verurteilten den Schuldspruch und forderten ausdrücklich Lius sofortige Freilassung. Die chinesische Regierung ließ wie vielfach zuvor verlauten, dass sie sich jegliche „Einmischung in innere Angelegenheiten“ verbiete. Im Zuge der Berufungsverhandlung flammte die internationale Kritik an dem harschen Urteil erneut auf. Unter anderem erhob der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Günter Nooke schwere Vorwürfe gegen die chinesische Regierung. Er sprach von einem politischen Urteil. Die chinesische Führung habe ein weiteres Mal gezeigt, dass sie nicht gewillt sei, fundamentale Menschenrechte zu respektieren. „Das ist nicht nur eine vertane Chance für China, sondern zeigt auch, wie groß die Angst der kommunistischen Führung vor dem eigenen Volk ist“, erklärte Nooke.
Parteiinterne Kritik an Liu Xiaobos Verurteilung
Am 25. Januar 2010 wurde bekannt, dass vier hochrangige 80-90jährige Parteikader der KP Chinas in einem Offenen Brief an die chinesische Regierung deutliche Kritik an Liu Xiaobos Verurteilung übten. Zwar wurde in dem Brief selbst die sofortige Freilassung von Liu nicht eingefordert, vertrat He Fang, einer der vier Unterzeichner und Ehrenmitglied der staatlichen Akademie für Sozialwissenschaften, diese Position selbstbewusst in einem Telefoninterview: „[Wir wünschen] die Revidierung des Urteils und dass Liu Xiaobo für nicht schuldig befunden und freigelassen wird. Zudem muss das in der Verfassung verankerte Recht auf Meinungsfreiheit geschützt werden. „Autor des Offenen Briefes war Hu Jiwei, ehemaliger Leiter der Parteizeitung „People s Daily“ („Renmin Ribao“ oder „Volkszeitung“). Zu den Mitunterzeichnern gehörten der hohe Parteifunktionär He Fang, der ehemalige stellvertretende Leiter der „Volkszeitung“ Li Pu und Dai Huang, ein ehemals hochrangiger Reporter der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua.
In dem Offenen Brief wird ferner kritisiert, dass allein nur Liu Xiaobos bloße Forderung nach einer föderalen Staatsstruktur als schwere Beweislast gegen ihn gelten würde. Nach Ansicht Hu Jiweis widerspricht Lius Forderung nicht den frühen Zielen der KP Chinas. Hu beklagt: „Wenn die Richter die [chinesische] Verfassung verletzen und unwissend über die Parteiengeschichte sind , falsche und inkorrekte Behauptungen aufstellen, dann schadet dies dem Image des Landes und der Partei, dann wird es schwer zu beweisen, dass China ein Rechtsstaat und eine harmonische Gesellschaft ist.“
Friedensnobelpreis
Anfang Februar 2010 gab der Präsident des amerikanischen PEN-Clubs und Professor der Princeton Universität Kwame Anthony Appiah bekannt, dass er Liu Xiaobo formell für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen habe. In seinem Schreiben an das norwegische Nobelkomitee hob Appiah Lius „herausragende und prinzipientreue Führungsrolle im Bereich der Menschenrechte, der politischen Rechte und der freien Meinungsäußerung“ hervor. Zudem argumentierte Appiah, dass eine „Ehrung [Lius] mit dem Friedensnobelpreis ein mächtiges Zeichen dafür setzten würde, dass die Rechte, die im Völkerrecht verankert sind, Werte, die China anerkannt und unterstützt hat, nicht verhandelbar sind und für jede Frau und jeden Mann gelten. „Die chinesische Regierung reagierte prompt auf Liu Xiaobos Nominierung und verurteilte sie scharf. Der Sprecher des Außenministeriums Ma Zhaoxu ließ verlauten, dass „wenn der Friedensnobelpreis an eine solche Person verliehen würden, dies offensichtlich vollkommen falsch sei“.
Unbeirrt vom politischen Druck aus Peking verkündete das Nobelpreiskomitee am 8. Oktober 2010 schließlich, das Liu Xiabo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird. Der Chef des Komitees Thorbjørn Jagland begründete die Entscheidung mit dem „langen und gewaltlosen Kampf“ des chinesischen Dissidenten für die Menschenrechte in seinem Land. „China verstößt gegen die Einhaltung einiger internationaler Abkommen, die es selbst unterzeichnet hat und missachtet auch eigene Vorschriften bezüglich politischer Rechte“. Zudem sieht der Norweger das Komitee in der Verantwortung, „zu sprechen, wenn andere nicht sprechen können“.
Die Gefängnisleitung soll Liu die Nachricht über seine Auszeichnung erst einen Tag später überreicht haben. Der Schriftsteller soll dabei zu Tränen gerührt gewesen sein und richtete seiner Ehefrau aus, dass er den Preis allen Opfern des Tiananmen-Platz Massakers widmen möchte.
Berufung gegen das Urteil
Obwohl die Berufung letztendlich abgelehnt wurde und sich die chinesische Regierung nach außen hin gewohnt unnachgiebig zeigte, gab es auch Anzeichen dafür, dass der Fall Liu Xiaobo bei den Parteikadern für Nervosität sorgte. So sollen Ende Januar 2010 drei hohe Richter und ein Protokollführer völlig überraschend Liu Xiaobo in seiner Zelle aufgesucht haben, um ihm Fragen bezüglich des Urteils zu stellen. Nach Meinung von Lius Anwalt und seiner Ehefrau Liu Xia ist dies ein ungewöhnliches Vorgehen, für das es keinen Präzedenzfall gibt. In den Wochen und Monaten zuvor hatte sich auch in der Volksrepublik zunehmend Widerstand gegen das drakonische Urteil gegen Liu Xiaobo formiert. Liu Xia berichtete, dass sie allein über Twitter mit Tausenden chinesischen Unterstützern Kontakt hält.
Die vier pensionierten Parteikader, die bereits für Aufsehen mit ihrem Offenen Brief an die Pekinger Machthaber sorgten, haben weitere Schreiben angekündigt. „Keiner hat Angst. Es ist anderes als früher“, schätzte Liu Xia die Situation ein. Zudem sei sie gerührt und ermutigt von der weltweiten Anteilnahme, die ihr und ihrem Mann zu Teil werde. Nach der gescheiterten Berufung sind zwei Texte von Liu Xiaobo an die Öffentlichkeit gelangt. Bei dem einen handelt es sich um sein Schlusswort, das er während des Prozess nur unvollständig verlesen durfte. „Opposition ist nicht das Gleiche wie Subversion“, schreibt er dort. Zudem sei er immer für eine „schrittweise, friedliche, geordnete und kontrollierbare“ Reform Chinas gewesen. In dem zweiten Text sprach er sich gegen Hass aus, „der den Geist einer Nation vergiften und den Fortschritt einer Nation zu Freiheit und Demokratie aufhalten kann“.
Haftentlassung
Am 26. Juni 2017 wurde Liu eine Bewährung aus medizinischen Gründen gewährt. Die Entlassung weist auf die Schwere seiner Leberkrebserkrankung hin, die im Mai 2017 diagnostiziert wurde. Nach Angaben seines Anwalts, Shang Baojun, wurde Liu direkt zur Behandlung ins Krankenhaus in Shenyang in der Provinz Liaoning gebracht.
Zum Autor:
Martin Lessenthin, M.A., ist Sprecher der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main.