Kollege Algorithmus und seine Folgen: Von automatisierten Rechtsdienstleistungen bis zum virtuellen Anwalts-Substitut mit künstlicher Intelligenz
Rüdiger Rath
Ein paar Jahre noch wird es wohl ungefähr so weitergehen wie bisher. Aber die Einschläge kommen näher. So wie vielen anderen Branchen, in denen alles im Umbruch ist, steht auch der juristischen Arbeitswelt ein grundlegender Wandel bevor, dessen Vorboten wir bereits heute erleben.
Legal Technology heißt das Zauberwort, und es beschreibt die fortschreitende Digitalisierung juristischer Arbeitsprozesse. Der Rechtsprofessor Oliver Goodenough differenziert zwischen so genannten 1.0-, 2.0- und 3.0-Anwendungen der Legal Tech. Erstere sind bereits seit langer Zeit etabliert und noch vergleichsweise harmlos: Software zur Büro-Organisation wie juristische Datenbanken, digitale Dokumentenverwaltung und Buchhaltung, auch Online-Marktplätze für Rechtsberatung. Das kennen wir alle.
Seit einigen Jahren gibt es aber auch Legal Tech 2.0-Dienste, die das Ziel verfolgen, juristische Arbeits- und Kommunikationsschritte selbstständig anstelle eines menschlichen Sachbearbeiters zu erledigen. Anwendungsfelder der 2.0-Technologien ergeben sich inzwischen für nahezu alle Einzelschritte entlang der gesamten juristischen Tätigkeit von der Sachverhaltsaufklärung über die automatische Erstellung juristischer Dokumente wie Verträge und Klageschriften bis zur abschließenden Klärung eines Rechtsstreits per Online-Dispute-Resolution. Soweit einer rechtlichen Prüfung umfangreiche Vertragstexte zugrunde zu legen sind, können Kanzleien etwa auf so genannte E-Discovery-Software zurückgreifen: Dabei dienen E-Discovery-Tools z.B. dazu, in der Due Diligence die anwaltliche Prüfung relevanter Verträge zu übernehmen. Automatisierungsmechanismen für den anwaltlichen Schriftverkehr kommen sowohl als Kanzleisoftware als auch zur Verwertung von Eingabedaten, die Verbraucher auf Online-Plattformen hinterlassen, zum Einsatz.
Solche zunehmend automatisierenden Legal-Tech-Anwendungen werden seit ca. 2009 entwickelt. Seitdem wuchs allein die Zahl der Start-ups in der Branche bis Mitte 2016 auf 550 Unternehmen weltweit, die meisten davon in den Vereinigten Staaten. In Deutschland wurden bis 2016 nur 33 gelistet, allerdings waren es 2015 erst 20. Einige von ihnen haben sich längst zu hochspezialisierten Konkurrenten für etablierte Rechtsanwaltskanzleien entwickelt. So überprüft geblitzt.de (gegründet im Mai 2013) Bußgeldbescheide im Straßenverkehr. Tausende vermeintliche Raser kamen so ohne Bußgeld davon. Auf wenigermiete.de (gegründet Januar 2017) können Mieter überprüfen, ob ihr Vermieter die berühmt-berüchtigte Mietpreisbremse eingehalten hat. Die Seite bahn-buddy.de verhilft Bahn-Kunden bei Zugverspätungen automatisiert zur teilweisen Erstattung des Fahrpreises. Ähnlich funktioniert die Seite ersatz-pilot.de, die Entschädigungsansprüche von Flugreisenden prüft. Das Hamburger Start-up Myright agiert als Dienstleister zwischen Betroffenen und Anwälten bei hohen Streitwerten, etwa in der VW-Abgasaffäre.
Die schnellen Abläufe machen es möglich, dass Legal-Techs mit wenigen Mitarbeitern große Fallzahlen bearbeiten können – und das bei sinkender Fehleranfälligkeit. In Zukunft werden Legal-Techs auch Kündigungsschutzklagen abwickeln oder Ehen scheiden können. Für alles, was sich standardisieren lässt, wird es künftig Legal-Techs geben. Die Folge ist, dass Anwälte mit standardisierten Fällen schon bald kein Geld mehr verdienen werden. Im Staatsdienst hingegen können Richter, Staatsanwälte und Angestellte von Behörden demnächst aufatmen, denn ihnen winkt eine gewisse Entlastung von ihren Aktenbergen. Mittelfristig allerdings dürfte dieser Umstand für noch niedrigere Einstellungszahlen in den Staatsdienst sorgen.
Doch immerhin, sobald der Fall etwas komplexer wird, braucht es noch den menschlichen Juristen. Die Betonung liegt auf „noch“. Denn hier kommt Legal-Tech 3.0 ins Spiel. Damit sind IT-Lösungen gemeint, die es ermöglichen, nicht nur einzelne Arbeitsschritte oder simple, eng abgegrenzte Rechtsdienstleistungen autonom zu bewältigen, sondern das Berufsbild menschlicher Anwälte grundlegend zu verändern. Mehrere Unternehmen fokussieren ihre Entwicklungsarbeit heute bereits darauf, eine maschinenlesbare Sprache für rechtliche Dokumente wie Verträge (sogenannte smart contracts) zu schreiben. Ebenso streben einige Firmen an, ein virtuelles, mit künstlicher Intelligenz ausgestattetes Substitut für Anwälte zu programmieren. Ein erstes Zwischenergebnis stellt das auf IBM Watson gestützte Programm „ROSS Intelligence“ dar, wenngleich seine Funktionalität noch sehr begrenzt ist.
Ob und gegebenenfalls ab wann es ein virtuelles Juristen-Substitut mit künstlicher Intelligenz geben wird, ist noch ungewiss. Doch lassen die rasanten Fortschritte der KI in den letzten Jahren – man denke nur an die selbstlernenden Schach- und Go-Spiel-Programme, denen kaum noch ein Mensch das Wasser reichen kann – hier einiges erwarten. Sicher lässt sich heute nur sagen, dass die Gesellschaft auch in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren noch menschliche Juristen benötigen wird, vermutlich aber eher weniger als bisher. Und ob der deutsche Volljurist, der traditionell zum menschlichen Subsumptions-Automaten ausgebildet wird, die richtige Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft sein wird, das lässt sich durchaus bezweifeln.