Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
als Karl Lagerfeld noch regelmäßig in Talkshows ging (inzwischen tut er das ja, wohl aus Altersgründen, kaum noch), warf er dort gerne fröhlich sein Bonmot in die Runde, er habe als Kind die beste Erziehung genossen, die man sich vorstellen könne, nämlich gar keine. So etwas werden wohl die wenigsten von sich behaupten können. Nicht einmal gleich nach 1968 in westdeutschen Großstädten, den Zentren der antiautoritären Erziehung, hat man Kindern so einfach alles durchgehen lassen. Aber es steckt gewiss ein Körnchen Wahrheit im Diktum des Monsieur Karl: Zu viel Erziehung kann manchmal schlimmer sein als zu wenig.
Erziehung ist nämlich immer prägend, im Guten wie im Schlechten. Wenn auch kein Mensch allein und ausschließlich das Produkt seiner Erziehung ist, so bildet diese doch den Ausgangspunkt für alle weiteren Sozialisationsschritte im Leben des Einzelnen. Und die eigene früh- (und wohl auch mittel- und spät-) kindliche Prägung durch sein Elternhaus wird man vermutlich nie mehr im Leben wieder los. Daher stelle ich mir oft die Frage: Wie viele und welche Spuren hat die strenge Erziehung durch meine Eltern bei mir hinterlassen? Wahrscheinlich mehr und tiefere, als mir lieb sein kann. Immer wieder ist mir im Laufe meines Lebens bewusst geworden, dass ich einfach nicht aus meiner Haut heraus kann. Mein unbedingtes Ordnungsbedürfnis, mein ständiger Aufräumzwang… Das ist mir wohl schon in frühester Kindheit eingeimpft worden. Und wahrscheinlich auch meine Sorgfalt im Umgang mit Gegenständen gleich welcher Art und die besondere Wertschätzung alles Materiellen (gegenüber zum Beispiel den reinen Erlebnissen). Vieles davon ist sicherlich kritikwürdig…
Und doch bin ich meinen Eltern, zu denen ich in meinem späteren Leben ein so schwieriges Verhältnis haben sollte, im Nachhinein unendlich dankbar dafür, dass sie mich ganz maßgeblich auch zur Geduld und zur Selbstkontrolle erzogen haben. Als wir während meiner Kindheit im Osten – damals in den Siebzigern und Achtzigern – häufig Pakete aus dem goldenen Westen mit so vielen wunderbaren Dingen geschickt bekamen, was jedes Mal ein Fest war, wurden die gründlich verschnürten Kartons niemals sofort, sondern jeweils erst am Abend, ganz in Ruhe und im Rahmen einer genau festgelegten Zeremonie ausgepackt. Meine Aufgabe im Vorfeld des eigentlichen Paketöffnungsrituals war es dabei, die Paketschnur mühsam mit den Händen aufzuknüpfen, manchmal auch mit Hilfe einer Schere, die aber nur zum Drücken, Bohren und Gegenhalten, aber nie zum Schneiden des kostbaren Paketbandes aus dem Westen benutzt werden durfte, denn solches war ja, zumal in dieser Qualität, in der DDR kaum zu kriegen. Und auch nachdem die Schnur komplett vom Paket abgezogen und aufgewickelt war, durfte der Karton noch nicht geöffnet werden, was mir in jungen Jahren schon recht schwer gefallen ist… Erst nach dem Abendessen war es endlich so weit: Alle versammelten sich um den großen Esstisch, auf dem das Paket lag, und mein Vater öffnete es in – für mich – quälender Langsamkeit. Manchmal zog er kurz den Deckel nach oben und rief dann „Ooooh“, als ob er schon etwas ganz Schönes im Paket gesehen hätte, wobei er aber gleichzeitig den Deckel sofort wieder nach unten schob und seine Hände schützend um das Paket ausbreitete. Erst als die so erzeugte und immer weiter wachsende Spannung für mich schier unerträglich geworden war, durfte ich endlich, endlich den Deckel des Pakets vollständig anheben – und eine verführerische Duftwolke aus Kaffee, Schokolade, Seife und sonstiger Chemie entwich aus ihm und legte sich über unser Wohnzimmer…
Heute denke ich, dass ich dieser, mir im frühen Kindesalter anerzogenen, Fähigkeit zur Selbstdisziplin ganz vieles in meinem weiteren Leben zu verdanken hatte. Und ein angenehmer Nebeneffekt war die frühe Bekanntschaft mit der jedes Vergnügen noch erheblich steigernden Wirkung der Genussverzögerung…
Dein Johannes