Recht historisch Spezial: Justament-Autor Thomas Claer erinnert sich an den (zweiten) Golfkrieg vor 30 Jahren
Im Januar 1991 herrschte große Aufregung an unserer Schule. Ausgerüstet mit bunt bemalten Bettlaken, auf denen Parolen wie „Kein Blut für Öl!“ oder „Stoppt den US-Imperialismus!“ standen, zogen fast alle Schüler in Richtung Innenstadt, um gegen den amerikanischen Militäreinsatz in Kuwait zu demonstrieren. Der Hintergrund war: Eine internationale Koalition, angeführt von den USA und immerhin legitimiert durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrates, hatte mit Kampfhandlungen zur Befreiung Kuwaits begonnen, das fünf Monate zuvor vom Irak widerrechtlich annektiert worden war. Fast alle an unserer Schule, einem renommierten Gymnasium in der Hansestadt Bremen, waren sich einig, dass der Kriegstreiberei des US-Präsidenten George Bush sen. unbedingt entgegenzutreten war. Und obwohl uns niemand schulfrei gegeben hatte, zogen wir also in Begleitung einiger friedensbewegter Lehrer mitten am Vormittag (so wie 28 Jahre später die Schüler zu „Fridays for Future“) zur Anti-Golfkriegs-Demo, denn im Angesicht des „drohenden Dritten Weltkriegs“ – immer wieder war von einem bevorstehenden „Flächenbrand“ die Rede – war an so etwas wie Schul-Unterricht natürlich nicht zu denken. Nur eine Handvoll proamerikanisch eingestellter Schüler blieb in der Schule zurück.
Damals besuchte ich die zwölfte Klasse und gehörte natürlich zu den empörten Demonstranten. Aber in mir nagten wohl auch schon erste Zweifel. Mein Mathe-Lehrer – langhaarig und mit Nickelbrille, immer in Jeans und Pullover – hatte sich zu meinem Erstaunen skeptisch über unsere Demonstrationen geäußert: „Soll das jetzt jeden Tag so weitergehen?“ Ja, natürlich finde auch er es ganz schlimm, dass da jetzt Krieg geführt werde. Aber dieser Saddam Hussein, das habe er im SPIEGEL gelesen (den er meistens auf dem Lehrertisch liegen hatte, außerdem hatte er auch noch die ZEIT und die Frankfurter Rundschau abonniert), dieser Saddam Hussein, der sei schon ziemlich gefährlich, ein Anhänger eines Pan-Arabismus, so ähnlich wie der Pan-Germanismus von Hitler… Und vor dem hätten uns die Amerikaner ja schließlich auch mal gerettet… Mich erstaunte aber auch, wie schnell hierzulande immer gleich Tausende gegen Militäreinsätze der USA demonstrierten, während gut ein Jahr zuvor gegen das Massaker der chinesischen Regierung auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ – das war seinerzeit die erste Demonstration in Bremen, an der ich teilgenommen hatte – gerade einmal 30 Leute zusammengekommen waren.
Nach einigen Tagen war dann allerdings aus unseren Protesten schon wieder etwas die Luft raus. Vom Rektor der Schule kam die Anweisung, dass nun aber wieder regulärer Unterricht stattfinden müsse, das habe auch der Bildungssenator so angeordnet. Und der Krieg am Golf dauerte auch nur noch wenige Wochen und endete mit dem vollständigen Rückzug der irakischen Armee aus Kuwait. (Erst zwölf Jahre später sollte im nächsten Golfkrieg der amerikanische Präsident George W. Bush – diesmal ohne UN-Mandat – den irakischen Diktator Saddam Hussein kurzerhand stürzen, ohne einen wirklichen Plan für das Danach zu haben…)
Doch noch in der aufgeheizten Phase während des Golfkriegs bekam unsere Schule Besuch von einem berühmten Intellektuellen. Der deutsch-französische Politologe Alfred Grosser hielt bei uns einen Vortrag – durch Vermittlung, wie es hieß, des stellvertretenden Rektors der Schule, der bekanntermaßen ein CDU-Mann war. Damals konnte man noch nicht einfach jemanden mal eben googeln. Daher steckte ich den armen Alfred Grosser gedanklich sogleich in die für mich unliebsame Schublade „konservativ“, zumal er in seinem Vortrag auch gleich entsprechend loslegte: Dass er mit erheblicher Verspätung erschienen sei, das liege an diesen sogenannten Friedens-Demonstrationen, die mal wieder den ganzen Verkehr lahmgelegt hätten. Dabei sei der Name „Friedensbewegung“ doch ziemlich anmaßend, denn er suggeriere schließlich, dass alle anderen nicht für den Frieden wären, was aber überhaupt nicht der Fall sei. Und zur innenpolitischen Kontroverse anlässlich des Golfkriegs, den er ausdrücklich unterstützte, meinte er: Deutschland hätte sich auch an dieser internationalen Militäraktion mit UN-Mandat beteiligen müssen. Das wiedervereinigte Deutschland müsse lernen, auch selbst Verantwortung in der Welt zu übernehmen. Es müsse sich verabschieden vom Traum, eine Art Schweiz sein zu wollen und sich immer aus allem rauszuhalten. Dafür sei das Land zu groß und zu bedeutsam. Er habe gerade lange darüber mit seinen Freunden bei den hessischen Grünen diskutiert. (An dieser Stelle fragte ich mich irritiert, wie jemand mit solchen Ansichten Freunde bei den Grünen haben konnte. Ich hielt diesen Hinweis daher für wenig glaubhaft und vermutete einen Trick, um sich bei uns, den linksalternativen Bremer Schülern, irgendwie „einzuschleimen“.) Mehrere Wortmeldungen von Schülern und Lehrern führten daraufhin die Argumente der Friedensbewegung ins Feld, doch Prof. Grosser hielt argumentativ gekonnt dagegen, indem er sich auf die westliche Wertegemeinschaft berief und darauf, dass Deutschland sich, gerade aufgrund seiner Vergangenheit, nie wieder international isolieren dürfe. Es war wirklich schwer, noch etwas dagegen vorzubringen, was mich auch irgendwie wütend machte. Darüber hinaus bemerkte Alfred Grosser, dass er den letzten Bundestagswahlkampf vor der Wiedervereinigung „sehr traurig“ gefunden habe, denn die konservative Bundesregierung habe den Eindruck erweckt, die deutsche Einheit sei ohne große Anstrengung zu erringen und die Opposition habe immer nur vorgerechnet, wie viel alles kosten würde. Kein deutscher Politiker habe den Menschen gesagt, dass zwar große Herausforderungen auf sie zukämen, aber mit großer gemeinsamer Kraftanstrengung alle Schwierigkeiten zu überwinden seien… Dabei entging mir nicht, dass Prof. Grosser in seinen Ausführungen die SPD als „Sozialisten“ bezeichnet hatte. Ha, dachte ich, so will er sie diskreditieren, indem er sie in die linksradikale Ecke stellt. Keinen Moment lang dachte ich daran, dass in Frankreich, wo Alfred Grosser als Hochschullehrer tätig war, die Sozialdemokraten schlicht unter der Bezeichnung „Sozialisten“ firmieren…
Bald darauf wurde ich von der Redaktion der Schülerzeitung gefragt, ob ich nicht einen Artikel über den Vortrag von Prof. Grosser an unserer Schule schreiben könnte. Natürlich ließ ich mich nicht lange bitten, denn dies war gewissermaßen meine erste journalistische Arbeit, auf die ich rückblickend aber keineswegs stolz bin. Denn ich ging in diesem Text, der die Überschrift „Macht der Sprache“ trug, hart mit Alfred Grosser ins Gericht und kritisierte ihn dafür, dass er mit „rhetorischen Taschenspielertricks“ am Ende scheinbar immer Recht behielt, ohne wirklich auf das berechtigte Ansinnen der Friedensbewegung einzugehen. Es dauerte aber nicht lange, ich glaube es war schon nach wenigen Monaten, da bereute ich zutiefst, was ich da geschrieben hatte. Denn mittlerweile war ich ein regelrechter Fan von Alfred Grosser geworden, den ich endlich als unabhängige liberale Stimme näher kennen- und schätzen gelernt hatte. Auf dem Flohmarkt an der Bremer Bürgerweide hatte ich zum Preis von 50 Pfennigen ein schon ziemlich zerknicktes und ramponiertes Exemplar seines Buches „Versuchte Beeinflussung. Reden und Aufsätze“ aus den frühen Achtzigern erstanden und mit wachsender Begeisterung gelesen. Auch verfolgte ich nun regelmäßig die Fernseh-Gesprächsrunde „Baden-Badener Disput“, ausgestrahlt zu später Stunde auf 3Sat, in der Alfred Grosser ein ebenso ständiger Gast war wie der Philosoph Peter Sloterdijk, dessen „Kritik der zynischen Vernunft“ ich auch schon eifrig studiert hatte…
Und so kann ich mich nun, nach dreißig Jahren, endlich bei Alfred Grosser, der gottlob noch lebt, aber mittlerweile auch schon 95 Jahre alt ist, für meinen damaligen unqualifizierten Text in der Schülerzeitung öffentlich entschuldigen. Es ist nur so. Bis vor wenigen Jahren war ich mir noch ganz sicher, dass ich damals mit meiner Kritik Unrecht und Alfred Grosser vollkommen Recht hatte. Eine begrenzte Militäraktion mit UN-Mandat gegen einen Aggressor, das ist doch völlig in Ordnung, das dient der Wiederherstellung des internationalen Rechts. Die Friedensbewegung war auf dem völlig falschen Dampfer. So dachte ich, wie gesagt, bis vor kurzem. Aber nun, nach mehreren Jahren Flüchtlingskrise, bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Wäre es nicht vielleicht doch das geringere Übel gewesen, wenn sich der Westen dort einfach herausgehalten hätte? Denn solche Diktatoren, so schlimm sie auch sein mögen, sorgen immerhin für eine gewisse Stabilität… Wenn man sich das ganze Elend in dieser Region, die sich immerhin ziemlich in unserer Nachbarschaft befindet, insbesondere seit den vom Westen beförderten Regimewechseln so ansieht, die ganzen Flüchtlingsströme und den Terrorismus bis vor unseren Haustüren… So gesehen hatte ich also mit meinen damaligen Einwänden in der Schülerzeitung vielleicht gar nicht mal so unrecht…