Zwei sowjetische Kampfpiloten sollen vor 55 Jahren nahe dem sächsischen Dorf Syhra ihr Leben für die Bewohner hingegeben haben, indem sie auf den Schleudersitz verzichteten
Benedikt Vallendar
Einen Gott? Zumindest offiziell gab es den für Oberst Viktor Schandakow und Major Juri Wladimirow nicht. Denn erzogen waren sie im Glauben an die kommunistische Partei der Sowjetunion und an die Gottgleichheit der Schriften von Lenin, Marx und Engels. Doch an diesem sonnigen 19. Oktober 1966 schien das eherner Gesetz des Kommunismus für einen Augenblick außer Kraft gesetzt. Vorausgesetzt es stimmt, was die SED und ihre Fortsetzungspartei, die „Linke“ später behaupteten.
Doch der Reihe nach.
Schandakow und Wladimirow fliegen an diesem Herbsttag in ihrer MIG 21 über Sachsen vom thüringischen Altenburg-Nobitz kommend. Zunächst verläuft alles planmäßig. „Es war ein gewöhnlicher Trainingsflug“, erinnerte sich später ein Zivilangestellter der Militärbasis in Nobitz. Bis plötzlich im Motorraum Feuer ausbricht. Da befindet sich die MIG 21 gerade im Anflug auf die Ortschaft Syhra. Einem kleinen Dorf südlich von Leipzig, wo die Menschen wie eh und je ihren Geschäftigkeiten nachgehen; auf dem Felde arbeiten, in der Schule lernen oder im Büro über Abrechnungen brüten. An das tägliche Getöse der Militärjets und die vielen Tiefflugübungen hatten sich die Bewohner längst gewöhnt. Doch niemand ahnt, dass sich über ihnen ein Drama anbahnt. Dass ihr Leben am seidenen Faden hängt. Als sich im Cockpit Qualm ausbreitet, bleiben den Piloten nur wenige Sekunden, um sich zwischen ihrem und dem Leben der Dorfbewohner, darunter vielen Kindern zu entscheiden. Und sie tun es, aus welchen Gründen auch immer und sehr wahrscheinlich ohne ein Leninzitat auf den Lippen. Fest steht: Schandakow und Wladimirow unterlassen es, sich rechtzeitig per Schleudersitz aus ihrer havarierten Maschine zu befreien; vielleicht, um die Menschen in Syhra durch einen Absturz auf die Gebäude nicht zu gefährden, wie die SED behauptete, vielleicht aber auch, weil sie in betrunkenem Zustand längst die Kontrolle über ihre Maschine verloren hatten, wie noch heute in Syhra kolportiert wird. Denn dass in russischen Kasernen gern mit Hochprozentigem gefeiert wurde, war zu DDR-Zeiten ein offenes Geheimnis. Die MIG 21 zerschelle auf freiem Felde und geht sofort in Flammen auf. Jede Hilfe kommt zu spät. Die 43 und 35 Jahre alten Piloten sterben qualvoll in ihrem verkeilten Cockpit, weil die Flughöhe nicht mehr ausgereicht hätte, um die Rettungsfallschirme auszulösen. Angeblich seien die Leichen der beiden bereits verbrannt gewesen, so dass kein Alkoholtest mehr durchgeführt werden konnte, behaupteten damals DDR-Journalisten, vielleicht um den Mythos um die sowjetischen „Helden“ nicht zu gefährden.
Das Problem: Außer Berichten in der zensierten Ost-Presse gibt es bis heute keinen Zugang zu Untersuchungsberichten des KGB, des früheren sowjetischen Geheimdienstes. „Die dürften in irgendeinem russischen Militärarchiv liegen, und sind dort unter Verschluss“, sagt der Historiker Uwe Puschner von der FU Berlin. Bislang ist es keinem Journalisten gelungen, an diese Dokumente heranzukommen. Auch Anfragen dieser Zeitung an die russische Botschaft in Berlin blieben unbeantwortet.
PR für eine Diktatur?
Bis heute sorgt daher der Absturz bei Syhra im Herbst 1966 für Diskussionsstoff. „Wenn es wirklich so war, wie später von Seiten der Partei verbreitet, haben es die Soldaten Jesus gleichgetan“, meint etwa der pensionierte Pfarrer Gerhard Frey aus der Oberlausitz. Schließlich sei der auch für andere, „für uns alle“ in den Tod gegangen, so Frey. Der Pfarrer zeigt sich nachdenklich und bedeckt. Denn er weiß, dass die Postkommunisten sich höchst gerne feiern lassen, wenn sie medienwirksam der DDR, ihren Vertretern und früheren Verbündeten etwas Gutes, gar „Menschliches“ abgewinnen können. Frey wägt seine Worte genau ab. Wiederholte Male war er mit SED-Schergen über Kreuze gefallen. Frey gehörte zu jenen DDR-Bürgern, die auch die weniger gemütlichen Seiten des Kommunismus kannten. Sein Pfarrergehalt betrug zu DDR-Zeiten 475 Ostmark monatlich, während ein 19-jähriger Offiziersanwärter der Staatssicherheit knapp 1.200 Ostmark verdiente, was anschaulich zeigt, mit wieviel Verachtung der SED-Staat in Wirklichkeit auf alles Christliches herabblickte.
Denkmal für die Toten
Doch nach eigener Lesart fuhr die Staatspartei in allem, was sie tat einen höchst „humanistischen“ Kurs. Nach dem Unglück ließ sie in Syhra gar ein Denkmal errichten, das noch heute dort steht. Zur Einweihung seien auch Vertreter örtlicher Kirchengemeinden erschienen, erzählte man sich später im Dorf. Und auch, dass sich der rote Backsteinbau nahe der Autobahn 72 in den Folgejahren zur wahren Pilgerstätte für Schulklassen, FDJ-Gruppen und Jungpioniere entwickelte; zu einem kommunistischen Wallfahrtsort, an dem regelmäßig den „Bruderstaaten“ DDR und Sowjetunion gehuldigt wurde.
Aus der Geschichte lernen?
Doch so wie die DDR in sich versank, so verfiel auch das rote Backsteinmemorial im Laufe der Jahre immer mehr. Bis am Ende nur noch wenige wussten, was sich dort im Oktober 1966 tatsächlich abgespielt hatte. Erst vor wenigen Jahren wiederentdeckte der Ortverband der Linkspartei das verwitterte Gemäuer und sammelte Geld für seine Restaurierung. Es gelang sogar, Nachfahren der verunglückten Piloten ausfindig zu machen und unter großem Presseaufgebot in die sächsische Provinz zu locken; was nicht nur bei Opfervertretern auf Unverständnis stieß. „Mit Events aller Art betreiben die Genossen seit Jahren Geschichtsklitterung, indem sie aus der DDR das Gegenteil von dem machen, was sie in Wirklichkeit war“, kritisiert die frühere Bürgerrechtlerin Freya Klier. Dass die Linkspartei mit der Geschichte aus Syhra auch PR für ihre untergegangene Diktatur mache, sei bezeichnend, berechnend, aber auch nicht ungewöhnlich, meint Klier. Sie selbst ist gebürtige Dresdnerin und gehörte zu den führenden Köpfen der Friedlichen Revolution im Herbst 1989. Eine Revolution, die nur möglich war, weil die späteren, politischen Führer der verunglückten Piloten umsichtig, menschlich und vielleicht auch ein Stück weit christlich agierten. An ihrer Spitze stand der damalige Generalsekretär Michail Gorbatschow, ein gelernter Jurist, Geheimdienstler und Parteiapparatschik. Aber auch ein Mann, der – vorausgesetzt der Mythos stimmt – im Herbst 1989 aus dem Schicksal der verunglückten Piloten ein Stück weit gelernt zu haben schien.