Die Mutter der Akten

Die Erinnerungen der DDR-Bürgerrechtlerin Marianne Birthler

Benedikt Vallendar

cover-birthlerBerlin – „Am Ende hatten wir die wichtigsten Ziele erreicht, die uns am Herzen lagen, auch wenn der Weg bis dahin schmerzhaft war“, sagt Marianne Birthler, ein viertel Jahrhundert nach dem Mauerfall in Berlin. Für viele Bürgerrechtler war die Wende zunächst eine große Enttäuschung, erinnert sich Birthler, persönlich, politisch und inhaltlich. Bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 erreichten die grünen Listenkandidaten, zu denen auch Marianne Birthler gehörte, nicht die erhoffte Stimmenzahl; mit vielen ihrer im Herbst 1989 formulierten Ideen hatten diejenigen, die  der SED einst mutig die Stirn geboten hatten, nicht punkten können. Vieles von dem, was sich die Bürgerrechtler einst in privaten Wohnzirkeln und auf Wochenendseminaren der evangelischen Kirche zur politischen Zukunft der DDR, die ja eine „sozialistische“ bleiben sollte, erdacht hatten, platzte mit dem Sieg der CDU-geführten „Allianz für Deutschland“ wie eine Seifenblase. Die überwiegende Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung hatte nach dem Ende der SED-Diktatur die Nase gestrichen voll von allem, was auch nur den Hauch von Sozialismus in sich trug. Damit hatten die Bürgerrechtler, die zum Teil bis heute in ihren linken Denkschablonen verhaftet sind, nicht gerechnet.

Die Schatten der Vergangenheit

Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 6. Dezember 1990 flogen die westdeutschen Grünen, zu denen viele Bürgerrechtler später stießen, gar komplett aus dem Parlament heraus. „Auch wir mussten mühsam lernen, dass Demokratie Vielfalt bedeutet, und wir mit unseren Vorstellungen eben nur einen kleinen Teil der Bevölkerung erreichten“, sagt Marianne Birthler selbstkritisch über die Arbeit der Bürgerrechtler.
Heute kann sie auf eine Karriere zurückblicken, von der sie als Studentin wohl niemals geträumt hat.  Geboren 1948 und aufgewachsen in Ost-Berlin musste sich die dreifache Mutter nach bestandenem Abitur zunächst „in der Produktion“ bewähren, bevor sie ein Wirtschaftsstudium aufnahm, das sie 1972 erfolgreich abschloss; es dann aber nur ein paar Jahre in dem erlernten Beruf aushielt. Sie suchte nach einer Tätigkeit, wo sie „mehr am Menschen“ arbeiten konnte, sagt sie. Und fand diese unter dem Dach der Kirche.

Stets ging es Marianne Birthler um Glaubwürdigkeit, sagt sie, weniger um Karriere oder eigenes Ansehen. Ihre Geradlinigkeit war und ist ihre große Stärke, mit der sie sich bei Kollegen, auch aus anderen politischen Lagern, Respekt und Anerkennung erworben hat. 1992 trat sie aus Protest gegen die Verstrickungen des damaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe in das SED-Regime von ihrem Kabinettsposten in Brandenburg zurück. „Ich fühlte mich den Opfern der Diktatur verpflichtet“, sagte Birthler später. Die permanenten Lügen des späteren Bundesverkehrsministers zu seiner Stasi-Verstrickung habe sie irgendwann nicht mehr ertragen können, sagt sie.

Systemnahe Lehrer entlassen

Als Bildungsministerin hatte Marianne Birthler wichtige Akzente in der Schulpolitik ihres Bundeslandes gesetzt und konsequent dafür gesorgt, dass bis 1991 politisch belastete Lehrkräfte vom Dienst im Klassenzimmer entlassen wurden; am Ende sollen es mehr als 700 gewesen sein. Aus der kleinen, unscheinbaren Nickelbrillenträgerin von 1989, als Marianne Birthler am 4. November vor mehreren Hunderttausend Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz sprach, war eine selbstbewusste Politikerin geworden, die wusste, was sie wollte; auch wenn sie mit ihrer undiplomatischen und mitunter burschikosen Art bei manchen Weggefährten, darunter Matthias Platzeck und Rainer Eppelmann, auf Unverständnis stieß. Marianne Birthler war zunächst Abgeordnete in der ersten frei gewählten Volkskammer, wo sie mit dafür sorgte, dass der Bundestag am 14. November 1991 das Stasiunterlagengesetz verabschiedete, das bis heute den Zugang zu den papiernen Hinterlassenschaften des früheren Mielke-Imperiums regelt. Seit 2000 war sie als Bundesbeauftragte fast elf Jahre für eben diese verantwortlich.

In der evangelischen Kirche der DDR hatte Marianne Birthler jahrelang gegen mageres Gehalt als Jugendpflegerin gearbeitet und dabei erste Kontakte zur oppositionellen Szene geknüpft. „Die Kirche hat uns Freiräume gegeben, die wir andernorts nicht gehabt hätten“, sagt sie. Das führte dazu, dass sich dort auch Menschen versammelten, die mit Glaube und Gott eigentlich gar nichts am Hut hatten und dennoch spürten, dass ihnen die religiöse Atmosphäre Kraft und Mut für den täglichen Kampf gegen Behörden und Bürokratie gab. „Bleibe hier und wehre dich täglich“, war in den achtziger Jahren ein geflügeltes Wort, das trefflich jene Stimmung wiedergab, die nicht wenige DDR-Bürger im Wendeherbst 1989 ergriffen hatte; auch Marianne Birthler, die nie daran gedacht hat, ihrer Heimat, in der so vieles im Argen lag, den Rücken zu kehren.

Marianne Birthler
Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben
Erinnerungen
Fester Einband, 424 Seiten
Mit zahlreichen Abbildungen
Mit Lesebändchen
Preis: 22,90 € (D) / UVP 32,90 sFR (CH) / 23,60 € (A)
ISBN 978-3-446-24151-0
Hanser Verlag Berlin 2014

Veröffentlicht von on Jul 7th, 2014 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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