„Schwankender Westen“ von Udo Di Fabio
Matthias Wiemers
„Professor Di Fabio hatte Semesterferien – und hat ein Buch geschrieben“. So jedenfalls könnte man urteilen, wenn man dem Vorwort entnehmen kann, dass es im August dieses Jahres geschrieben wurde, und wenn auch im Buch auf diesen August Bezug genommen wird (S. 18). Das Buch kam jedenfalls rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse, und es bildet wieder einmal eine Brücke zwischen der fachwissenschaftlichen Expertise eines Professors für öffentliches Recht und dem realen Leben ums uns herum, das wir täglich mehr oder weniger auch in den Medien dargestellt finden. Dabei hilft Di Fabio, dass er nicht nur Jurist, sondern auch Soziologe ist, der die Systemtheorie Niklas Luhmanns gerade in diesem Buch gewissermaßen aus dem Handgelenk schüttelt.
Dies ist nicht das erste Buch über den Westen – aus jüngerer Zeit sind etwa Bücher von Philippe Nemo und Wolfgang Schäuble zu nennen –, und Di Fabio nähert sich der Beschreibung des Westens im sehr knappen ersten Kapitel, bevor er in eine fast 30seitige Krisendiagnose des Westens einsteigt. Hierbei kann man schon hervorheben, dass der Autor als ein Krisensymptom die „Überschätzung sozialtechnischer Steuerungsfähigkeit“ identifiziert (nochmals etwa auf S. 218). Di Fabio ist kein Anhänger der „Machbarkeit“.
Ein weiterer Gedanke, der das Buch durchzieht, ist, dass Di Fabio gegenwärtig die fehlende Trennung von Funktionssphären konstatiert (s. etwa S. 43 f. und vor allem S. 224 ff.); er befürwortet nicht nur die Trennung von Staat und Gesellschaft (S. 150 f.), sondern auch sämtlicher gesellschaftlicher Subsysteme – ganz im Sinne der Systemtheorie.
Im Zweiten Teil (Kap. 4 – 7) wird die Beschreibung dessen, was der Westen sei, vertieft. Es handelt von der Aufklärung und den Einflüssen der Religion, aber auch – als aktuelle Herausforderungen des Westens –von der Infragestellung der Anthropozentrik des westlichen Weltbildes in der jüngsten Zeit und der Bedrohung von Freiheit durch Erscheinungen einer öffentlichen Komplett-Betreuungskultur und von einer verblassenden Bildungsidee. Im Verhältnis des Westens zu Religion und Glaube sieht Di Fabio einen Prozess der Koevolution von Vernunft und Glaube. Im wiederum kurzen dritten Teil setzt er sich mit dem Verhältnis von Gemeinschaft und Vertragsgesellschaft auseinander . Der vierte Teil „Die Politik der Gesellschaft“ entspricht einem gleichnamigen Werk Niklas Luhmanns, und folglich wird hier mit Hilfe der Systemtheorie soziologisch erklärt, wie Politik funktioniert. Eine hier zu erwähnende Herausforderung der Gegenwart sieht Di Fabio in einem gesellschaftlichen Konformitätsdruck, der den Rechtsstaat daran hindert, sich durchzusetzen – beispielsweise bei Bahnhofsprojekten oder Stromtrassen (S. 154). Für Juristen sicherlich besonders interessant ist das 12. Kapitel im dritten Teil „Politik und Normen“. Im fünften Teil geht es um „Marktwirtschaft und Politik“, also um die alte Frage, ob Marktwirtschaft einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat voraussetzt – was Di Fabio bejaht.
Der aktuellste Teil über „Die Krise Europas“, nur noch gefolgt von einem kleinen Epilog, beschließt den Band. Hier wird nicht nur in geraffter Form die Entstehungsgeschichte der EU skizziert, sondern vor allem auch an die Bedeutung des Rechts im Rahmen der europäischen Integration erinnert. Di Fabio erörtert den Gegensatz von Stabilitätspolitik und Wirtschaftslenkung und verweist hierbei auf die von ihm so genannten „kulturellen Voraussetzungen des Wirtschaftswachstums“, wofür er die duale Berufsausbildung letztlich als Beispiel anführt (S. 209). Das Thema Bildungspolitik, das mehrfach vorkommt, taucht auch in diesem letzten Abschnitt nochmals auf. Lesenswert ist eine Auseinandersetzung mit dem Glauben an eine sozialtechnische Lösung (auch) des Bildungsproblems und die Hervorhebung der Ideen von Selbstregulierung und der Beschränkung staatlicher Steuerung. Er traut Handwerkskammern und Berufsschullehrern zumindest mehr zu als der OECD (S. 218 f.). An anderer Stelle heißt es wörtlich: „Artifizielle Studiengänge und ineffiziente Studienabschlüsse ohne praktische Rückkopplung an die Bedürfnisse der Wirtschaft beeindrucken in OECD-Statistiken, während sie in Wirklichkeit eine Ursache für die Entstehung von hoher Jugendarbeitslosigkeit darstellen.“ (S. 229) Auch einer „reinen Funktionslogik des Binnenmarktes“ steht Di Fabio kritisch gegenüber (S. 223).
Im Epilog wirft Di Fabio, auf der zweitletzten Seite, einige bedeutsame Fragen auf, die in einer letzten Frage gipfeln: „Könnte es sein, dass Wertmaßstäbe, die bislang dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu Grunde lagen, im Netz mit seinen umschmeichelnden Benutzeroberflächen, seiner Anonymität und der Omnipräsenz kommunikativer Verfügbarkeit nicht nur verändert werden, sondern in der neuzeitlichen Prägnanz allmählich ganz verblassen?“ (S. 245) Am Schluss plädiert der Autor für zwar eine fortgesetzte funktionale Integration Europas, aber nur bei kultureller und eigenstaatlicher Vielfalt des Kontinents (S. 246).
Hoffen wir, dass dies gelingen kann! Vor dem Hintergrund der Diagnose des 1997 verstorbenen Niklas Luhmann, wonach Gesellschaft die Summe der Kommunikationen sei (zitiert bei Di Fabio, S. 195), müssen wir eine gleichmacherische Weltgesellschaft des Internets befürchten.
Udo Di Fabio
Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss
Verlag C. H. Beck, München 2015
272 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-406-68391-6