Zeitunglesen

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

das Zeitunglesen ist eine aussterbende Kulturtechnik, der ich regelrecht verfallen bin. Wollte man mich umbringen, müsste man mir meine tägliche stundenlange Zeitungslektüre wegnehmen. Wann aber hat das überhaupt angefangen bei mir? Eigentlich schon als Kind in den Achtzigerjahren, allerdings war das noch eine ganz andere Zeitung: Die Ostsee-Zeitung, seinerzeit das Organ der Bezirksleitung Rostock der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, war bis auf den Sportteil völlig unlesbar, bestand von vorne bis hinten fast ausschließlich aus hölzernen Propagandafloskeln. Mit ihr war man meistens schon nach ein paar Minuten fertig, außer montags, wenn die Fußballberichte vom Wochenende drinstanden. Als ich im Alter von 13 Jahren mit meinen Eltern aus der kleinen Stadt an der Ostsee in ein Einfamilienhaus auf dem Lande umzogen bin, hatte ich mit ihnen ausgehandelt, dass sie – als Kompensation für den mir ganz und gar nicht behagenden Orts- und Schulwechsel – gleich vier Zeitungen für mich abonnierten sollten: neben der obligatorischen Ostsee-Zeitung noch die Norddeutschen Neuesten Nachrichten, das Organ einer Blockpartei mit besonders guten Fußballberichten über den FC Hansa Rostock (der Rest der Zeitung unterschied sich nicht einmal in Nuancen von der Ostsee-Zeitung und auch nicht von der übrigen gleichgeschalteten DDR-Presse); außerdem die Junge Welt, das Organ der staatlichen Jugendorganisation FDJ, das sich von den übrigen Zeitungen ebenfalls im wesentlichen durch eine eigenständige Sportberichterstattung abhob, in dem aber immerhin auch noch die wöchentliche Rubrik „Unter vier Augen“ erschien, in der Leseranfragen zum Thema jugendliche Sexualität von einem Experten beantwortet wurden, eine Art Dr. Sommer für die DDR, was natürlich sehr interessant war; weiterhin das Deutsche Sportecho, eine dreimal wöchentlich erscheinende Zeitung mit nichts als Sportberichten – großartig! Seitdem war vor allem der Montag für mich ein Festtag, an dem ich regelmäßig mehr als zwei Stunden mit Zeitunglesen verbrachte.

Doch dann hatte ich das wohl prägendste Erlebnis meines Zeitungleserlebens: Unsere Schulabschlussfahrt in der zehnten Klasse führte uns 1988 ausgerechnet nach Minsk in Weißrundland. Damals wurde dieses Land noch nicht von Präsident Lukaschenko („Lieber Diktator als schwul.“) regiert, sondern gehörte noch zu Michail Gorbatschows dem Untergang geweihtem Sowjet-Imperium. Und dort, Glasnost und Perestroika sei Dank, gab es im Hotel Ljubilejnaja, in welchem wir untergebracht waren: echte westliche Zeitungen!!! Da kaufte ich also meine erste Süddeutsche Zeitung, und es war Liebe auf den ersten Blick. Ich las sie, glaube ich, von Anfang bis Ende komplett durch – und die vielen Stunden, die das dauerte, vergingen mir wie im Fluge.

Heute, ziemlich genau 30 Jahre danach, lese ich noch immer jeden Tag mindestens zwei Stunden in der Süddeutschen, der aus Papier, versteht sich. Doch bemerke ich, vor allem bei meinen S- und U-Bahnfahrten, dass die Zeitungleser mit der Zeit immer weniger und die Smartphone-Benutzer immer mehr werden. Inzwischen gibt es wohl schon eine absolute Mehrheit der Fahrgäste, die während der Fahrt nur noch auf ihr flaches Handy starren. Kein Wunder, diese Geräte werden ja auch immer billiger und Zeitungs-Abos immer teurer. Langsam, aber sicher wird das Zeitunglesen, das früher einmal ein Grundbedürfnis des mündigen Bürgers war (und die freie Presse galt als die vierte Staatsgewalt), zu einem ausgefallenen Luxus. Wohin es führen kann, wenn Menschen ihre Informationen hauptsächlich aus den Filterblasen der sozialen Netzwerke ziehen, haben wir ja bereits an der Wahl des amtierenden US-Präsidenten und am Brexit gesehen. Vielleicht werde ich ja eines Tages zu den letzten unermüdlichen Papierzeitungslesern gehören…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Mrz 5th, 2018 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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