Gesammelte Schriften von Josef Isensee

„Staat und Verfassung“ bilden den breiten Rahmen einer gewichtigen Auswahl von Texten

Matthias Wiemers

Josef Isensee ist nicht der Mann für Lehrbücher und Kommentare. Soweit bekannt, hat er sich nur vor wenigen Jahren an einem Kommentar zur Saarland-Verfassung beteiligt. Schon frühzeitig, noch vor der eigenen Promotion, trat er vielmehr als Autor von Monographien hervor. Hierbei fällt schon früh seine Formulierungskunst auf, die sich darin zeigt, dass oft schon der Titel einer Schrift das behandelte Problem auf den Punkt bringt. Ein Teil seiner Schriften, die ein ungewöhnlich breites Spektrum von Publikationsorten aufweisen, hat nun sein ältester habilitierter Schüler Otto Depenheuer in einem Sammelband erneut für eine interessierte (Fach-)Öffentlichkeit gewissermaßen aus einem Griff zugänglich gemacht. Der Band erscheint ein Jahr nach der Vollendung des 80. Lebensjahrs des Autors und weist einen leichten Schwerpunkt auf Veröffentlichungen der jüngsten Vergangenheit auf, und der älteste Text stammt aus dem Jahre 1981. Abgesehen von einem kleinen Sammelbändchen aus dem Jahre 2009, das ebenfalls wichtige, überwiegend monographische Schriften enthielt, bildet der Band die erste Sammlung gesammelter Schriften eines Autors, der freilich einen Großteil seines Werks im Rahmen des von ihm (mit-)herausgegebenen „Handbuch des Staatsrechts“ verfasst hat.
An dieser Stelle weist der Rezensent darauf hin, dass auch er zu den Schülern des Autors zählt, und die neue Sammlung zum Anlass genommen hat, viele der Beiträge erstmals und andere ein weiteres Mal zu lesen.
Depenheuer hat eine Binnendifferenzierung des Bandes vorgenommen, und so beginnt dieser mit einem Abschnitt über „Fundamente“. Schon dieser Abschnitt gibt dem Leser Orientierung bei der richtigen Einordnung politischer oder gar rechtspolitischer Debatten. Im voluminösen Beitrag über „Gerechtigkeit – zeitlose Idee im Verfassungsstaat der Gegenwart“ (2000) finden wir etwa auch Ausführungen zur „sozialen Gerechtigkeit“, worin sich der Staatsrechtslehrer zustimmend zur Kritik Friedrich August von Hayeks an diesem Topos äußert („Trojanisches Pferd des Totalitarismus“, S. 29).
Die „Konkretisierung des Gemeinwohls in der freiheitlichen Demokratie“ (2004), Thema des zweiten Beitrags, ist für die öffentliche Debatte ebenfalls fundamental. Der Leser erhält eine detaillierte Aufzählung von Thesen zum Gemeinwohl (S. 40 ff.), aber auch wichtige Aussagen zu der Fehlannahme, es sei allein der Staat, der das Gemeinwohl hervorbringen könne, und zu Entartungen wie den Öffentlichen Unternehmen und dem Verhalten von Tarifpersonal mit Dienstleistungsmonopol im Öffentlichen Dienst. Isensees im Jahre 2006 im Archiv des Öffentlichen Rechts erstmals publizierte Abhandlung über die „Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten“ entfaltet vor allem seine seit langem vertretene Position, wonach es sich bei der Menschenwürde um kein eigenes Grundrecht, sondern um den Grund der Grundrechte handelt (S. 83 ff.), nachdem er zuvor die Entwicklung des übrigen Meinungsstands dargestellt hat.
Solidarität ist – wie die Menschenwürde – ein Begriff, der in der Praxis oftmals zur kleinen Münze verkommt und der der Aufklärung bedarf. Josef Isensee hat sich 1998 zu „Solidarität – sozialethische Substanz eines Blankettbegriffs“ geäußert, der sich rechtlich nicht definieren lasse. Er wird aber abgegrenzt zur schlechthin altruistischen Nächstenliebe und beinhaltet nach Isensee einen „wohlverstandenen Eigennutz“. Solidarität verwirkliche „sich in allen Facetten des dezentralen, pluralen, offenen Gemeinwesens, in personalen wir in zweckrationalen Verbindungen, in spontanen wie in organisierten Äußerungen, in privatautonomen wie in staatlich geregelten Formen.“ Doch am Beispiel von Schillers Tell zeigt Isensee, dass das Gemeinwohl auch durch den Einzelnen gefördert werden kann, nicht allein durch die verschworene, solidarische Gemeinschaft (S. 109).
Abschnitt zwei des Bandes ist der „Freiheit“ gewidmet. „Was heißt Freiheit?“ hat Isensee zuerst 2011 gefragt und zeigt hier unterschiedliche Freiheitsbegriffe und schließlich die Grenzen der Freiheit auf, bevor im nächsten Beitrag „Das Dilemma der Freiheit im Grundrechtsstaat“ (erstmals 1999) dargestellt wird. Darin erfährt etwa die Tugend eine kritische Behandlung, weil sie der political correctness zugeordnet wird (S. 165). „Verbotene Bäume im Garten der Freiheit“ über „Das Tabu im Verfassungsstaat“ (2003).
Der nachfolgende Abschnitt „Sicherheit“ enthält bekanntere Veröffentlichungen mit ebenfalls bekannten Kernaussagen. In „Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates“ (1982) wird die Geschichte von der Entstehung des modernen Staates erzählt, die mit der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols und der daraus folgenden Friedenspflicht der Bürger verbunden sei. Der Beitrag antwortet auf Tendenzen der 80er Jahre zur Duldung privater Gewalt im politischen Meinungskampf und enthält den Untertitel „Zur Legitimationskrise des modernen Staates“.
Es folgt eine der bis heute bekanntesten Arbeiten Isensees, die – wie auch andere Beiträge des Bandes – auf einem von ihm gehaltenen Vortrag beruht: „Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates“ aus dem Jahre 1983 knüpft an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im ersten Abtreibungsurteil an. Hier hat Isensee zweifellos einen Meilenstein der Rechtsdogmatik gesetzt.
Zum islamistischen Terror und dem staatlichen Umgang hiermit hat sich Isensee 2004 unter dem Titel „Der Terror und der Staat, dem das Leben lieb ist“ geäußert.
Der nächste Abschnitt „Res Publica“ beginnt mit „Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates. Stationen in einem laufenden Prozeß“, also einem Grundsatzbeitrag zu einem grundsätzlichen Thema, das Isensee mit Platon beginnen und mit Nietzsches Prophezeiung nach einem Absterben des Staats enden lässt. Der wohl nicht zu Unrecht als konservativ geltende Isensee erwähnt am Ende des Beitrags bereits die „unsteuerbaren Kommunikationsräume (Internet) als eine der Ursachen für die Infragestellung des Staates. Und dies im Jahre 1999.
„Republik – Sinnpotential eines Begriffs“ ist der älteste Text und 1981 in der Juristenzeitung erschienen. Hier wird versucht, dem Begriff der Republik von seinem herkömmlichen Verständnis als „Nichtmonarchie“ aufzuhelfen zu etwas Positivem – in lesenswerter Weise.
Der Beitrag „Staat“ aus der Festschrift für Paul Kirchhof, dem Mitherausgeber des „Handbuchs des Staatsrechts“ ist ein relativ knapper Beitrag, der vor allem die Frage nach einer Ablösung des Staates durch überstaatliche Organisationen stellt (2013).
Wiederum aus einer Festschrift, der Festschrift für Gerd Roellecke (1997) ist der Titel „Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit“ entnommen. Er beschreibt die Wiederkehr der Nationen in Europa und setzt sich hierbei nicht zuletzt mit den Schwierigkeiten der Deutschen mit dem Thema Nation auseinander. Kommt der Begriff des Verfassungspatriotismus schon hierin vor, so schafft er es beim nächsten Beitrag in den Titel: „Staatsrepräsentation und Verfassungspatriotismus. Ist die Republik der Deutschen zu Verbalismus verurteilt?“ (1992) Hierin wird das Thema der Staatsrepräsentation jenseits von Bundespräsidentenreden behandelt.
„Rückmeldung eines Totgesagten: der Staat“ ist den Veröffentlichungen der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaften des Jahres 2011 entnommen und setzt sich mit den immer wiederkehrenden Abgesängen auf den Staat auseinander.
Der nächste Teil „Grundordnung“ beginnt mit „Das Volk als Grund der Verfassung“ (1995), dessen Inhalt weitgehend mit dem Untertitel „Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt“ beschrieben ist.
„Die Rationalität des Staates und die Irrationalität des Menschen. Prämissen der Demokratie“ (2015) zeigt die Dichotomie zwischen der Staat als zur Rationalität Verpflichtetem und zur Willkür berechtigten Bürger auf.
Aus der Festschrift für Walter Leisner stammt „Vorbehalt der Verfassung. Das Grundgesetz als abschließende und als offene Norm“. Hierin setzt sich Isensee insbesondere mit der ihm so genannten „Theorie der totalen Verfassung“ auseinander, die er insbesondere Peter Häberle zuschreibt (S.511). Isensees Verfassungsverständnis ist das einer unvollständigen Verfassung, die der Ergänzung durch niederrangiges Recht bedarf. Deshalb müssen sich auch die Staatsaufgaben nicht auf eine verfassungstextliche Grundlage zurückführen lassen und enthält die Verfassung etwa auch keinen abschließenden Katalog von Rechtsetzungstypen oder Abgaben. Verfassungsvorbehalte müssen jeweils durch Interpretation nachgewiesen werden.
Aus einer „Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“ entstammt der Beitrag „Stunde Null? Von der Unvermeidlichkeit der Anknüpfung beim Wechsel politischer Systeme“. Hierin setzt sich Isensee mit den beiden großen Ablösungen totalitärer Systeme in Deutschland im 20. Jahrhundert auseinander – und betont die Kontinuitäten, was er durch die Analyse der Rechtsentwicklung nachweist.
„Der Staat hat nichts zu verschenken. Rechtliche Substanz in einem Gemeinplatz“ aus dem Jahre 2016 liefert ein wichtiges Kapitel zum Finanzrecht des Föderalismus. „Resilienz des Rechts im Ausnahmefall“ (2016) versucht, diesen Modebegriff für das Katastrophenrecht fruchtbar zu machen.
Der nächste Abschnitt handelt über Europa, und er beginnt mit dem im Zuge der Vertragsänderung von Maastricht publizierten Beitrag „Europa – die politische Erfindung einer Erdteils“, und „Union – Nation – Region: eine schwierige Allianz“ greift im Jahre 2016 das schon früher vieldiskutierte Thema eines Europas der Regionen auf.
Den Schlussteil „Weltgemeinschaft“ bilden drei Beiträge, beginnend mit „Die vielen Staaten in der einen Welt – eine Apologie“ (2003), worin sich Isensee – wie auch sonst im Rahmen des Bandes – gegen die Vorstellung eines Weltstaats wendet. „Die heikle Weltherrschaft der Menschenrechte. Zur Dialektik ihrer Universalität“ behandelt das Problem der humanitären Intervention, aber auch die Frage, inwieweit überhaupt die europäische Herkunft und der Universalanspruch der Menschenrechte miteinander zu vereinbaren sind. Hierzu liefert Isensee abschießend einen umfangreichen Katalog von Leitsätzen (S. 686 ff.).
„Weltpolizei für Menschenrechte. Zur Wiederkehr der humanitären Intervention“ (1995) plädiert im Ergebnis für eine Rückbesinnung auf das völkerrechtliche Interventionsverbot. Denn die Menschenrechte sind ihm zu unbestimmt und die Gleichheit der Staaten verbietet den Interventionismus.
Der Rezensent, der nach seinem Wechsel nach Bonn Isensee im Hörsaal eigentlich nur in der Vorlesung „Allgemeine Staatslehre“ und später dann nochmals in „Verfassungstheorie“ erlebt hat, hatte immer darauf gewartet, dass dieser von seiner o. g. Gewohnheit einmal abweichen und vielleicht einmal ein Lehrbuch „Allgemeine Staats- und Verfassungslehre“ veröffentlichen würde. Der jetzt vorgelegte Band dürfte zwar für Studenten etwas zu kostspielig sein, aber inhaltlich ist er doch als Substitut eines solchen Lehrwerks anzusehen.

Josef Isensee, Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats- und Verfassungstheorie, herausgegeben von Otto Depenheuer, C. F. Müller Verlag, Heidelberg 2018, 710 S., 219, 99 Euro (ISBN 978-3-8114-3956-6)

Veröffentlicht von on Mrz 11th, 2019 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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