Udo Di Fabio über die Weimarer Reichsverfassung
Matthias Wiemers
Der Bonner Staatsrechtslehrer Udo Di Fabio zählt zu den eher wenigen Vertretern seiner Zunft, die sich mit Zeitungsartikeln und Büchern auch an ein allgemeines (intellektuelles) Publikum wenden. Wie einige andere Öffentlichrechtler hat auch er sich angesichts des 100jährigen Jubiläums der Weimarer Reichsverfassung mit diesem Verfassungswerk beschäftigt und hieraus ein Buch geschaffen, das noch im vergangenen Jahr erschienen ist. Das handliche Buch, das deutlich unter 300 Seiten Text umfasst, hat es allerdings in sich, weil es eine hochkomprimierte Arbeit darstellt, die neben historischen Grundlagen und Entwicklungsverläufen immer wieder die genuin staatsrechtliche und herrschaftssoziologische Sicht des in mehreren Disziplinen beheimateten Autors einnimmt und die zugleich ein Ertrag des Bonner „Forschungskollegs normative Gesellschaftsgrundlagen“ ist, dessen Leiter der Autor ist.
Nachzutragen ist hier noch ein zweiter, nur im Buchinneren enthaltener Untertitel des Bandes, worin dieser als „eine verfassungshistorische Analyse“ bezeichnet wird. Dies ist es natürlich in erster Linie, weil der Fortlauf der Entwicklung der „WRV“ anhand des Buchverlaufs ablesbar ist und weil dies auch in der Einleitung (A.) thematisiert wird (S. 19 ff.). Danach möchte die Schrift weder klassische Geschichtsschreibung noch Verfassungsgeschichte sein (S. 20), und das ist sie auch nicht. Welch umfangreiches Schrifttum Di Fabio hierzu herangezogen hat, lässt sich aus knapp 500 Fußnoten nachlesen, aus denen allein die verwendete Literatur zu erschließen ist. Während auch in anderen aktuellen Werken zur WRV der legitimatorische Dualismus zwischen Reichstag und Reichspräsident als Problem gesehen und betont wird, dringt Di Fabio zu den Quellen vor, indem er betont, die „Zweideutigkeit der Stellung des Kaisers“ (nach der Verfassung von 1871) sei später in die Weimarer Verfassung hineinkopiert worden, und er bringt damit schon früh ein Grundproblem der Verfassung und ihrer Wirklichkeit auf den Punkt: Mit der Entlassung Bismarcks sei die „prekäre Balance der Verfassung von 1871“ verloren gegangen und aus der „diagonalen Machtzentralität“ sei ohne Verfassungsänderung ein „Herrschaftssystem der organsierten Unverantwortlichkeit“ geworden (S. 35). Diese wichtigen Feststellungen finden bereits im zweiten Kapitel „Verfassungsentstehung zwischen Revolution und Kontinuität“ (B.).
„Ideelle Prägekräfte und kulturelle Strömungen der Republik“ sind Gegenstände des dritten Kapitels (C.), in denen nicht nur Entwicklungen des späten Kaiserreichs, sondern auch solche innerhalb der Weimarer Republik beschrieben werden. Nicht zufällig wird „Der Reichspräsident“ Gegenstand des vierten Kapitels (D.), worin der bereits angesprochene Dualismus von Di Fabio deutlich ausformuliert wird: „Doppelt verkörperter Volkswille: Wer regiert?“ (S. 71) In diesem Kapitel findet sich auch eine „verfassungshistorische Analyse“ der beiden Reichspräsidenten Friedrich Ebert und Paul von Hindenburg, worin Ebert sehr gut „wegkommt“. Er wird letztlich als der bedeutenste Staatsmann der Republik herausgestellt (S. 79 ff., 254), während sein Nachfolger Hindenburg – völlig zu recht – abqualifiziert wird und der ansonsten in der allgemeinen Erinnerung so hochgelobte Gustav Stresemann als der Hauptverantwortliche für die Kür Hindenburgs entlarvt wird (S. 98 ff., 253). Dem kann man nichts hinzufügen. Wesentlich gestützt auf die Hindenburg-Biographie von Wolfram Pyta, nimmt Di Fabio eine hoffentlich von größeren Kreisen gelesene Demontage des greisen Militärs vor (S. 91 ff.) und kritisiert diejenigen, die für seine Nominierung verantwortlich waren. Di Fabio wörtlich: „Blickt man auf die Reichspräsidentenwahl 1925, so darf man einigermaßen fassungslos sein über die Unfähigkeit der demokratischen Parteien, sich auf einen geeigneten Kandidaten zu einigen, obwohl ersichtlich im ersten Wahlgang die vier bürgerlichen Kandidaten zusammengerechnet eine überwältigende Mehrheit erzielten.“ (S. 97) Der Autor stellt hier auch in aller Deutlichkeit den Konstruktionsfehler des Wahlgesetzes nach der WRV heraus, das in § 4 die Möglichkeit eröffnete, im zweiten Wahlgang noch völlig neue Kandidaten zu präsentieren und nicht eine Stichwahl zwischen den Bestplatzierten der ersten Wahlrunde vorsah (S. 97 ff., 254).
Zu Hindenburg führt Di Fabio aus: „Hinter der Maske des gütigen Vaters und in Treue festen biederen Vertreters des Gemeinwohls stand ein eitler, reaktionärer und durchaus berechnender Mann, der kein Freund der freiheitlichen, parlamentarischen Verfassung war, allen Bekräftigungen seines Verfassungseides zum Trotz. Der Mann, der sein militärisches und politisches Versagen im Ersten Weltkrieg niemals eingestanden hätte, sondern frech die Verantwortung erst anderen – und zwar dem Parlament, das doch angeblich nur im Streit befindlich war – überlassen hatte und dann die Parlamentarier wie Erzberger, Rathenau, Ebert und Scheidemann, die für die planlose OHL die Kastanien aus dem Feuer holen mussten, auch noch mit der Dolchstoßlegende delegitimierte und dem rechtsradikalen Hass preisgab: Dieser Mann war unredlich, ein bornierter Heuchler.“ (S. 103 f.)
„Wirtschaft als Schicksal der Demokratie“ (E.) setzt sich auch mit der von der WRV vorgezeichneten Sozialpolitik auseinander, „Parlament, Parteien, Öffentliche Meinung“ (F.) räumt etwa mit dem Märchen auf, eine 5%-Sperrklausel hätte die Parteienzersplitterung verhindern können (s. a. S. 195). Die Möglichkeit des destruktiven Misstrauensvotums nach Art. 54 WRV wird anschaulich erläutert (S. 133 f.,
Die Reichswehr erhält ein eigenes Kapitel (G.), bevor in zwei Kapiteln der Niedergang der Republik dargestellt wird: „Der abschüssige Weg: Sturz der Regierung Müller und Regierung Brüning“ (H.) und „Von oben deformiert, von unten abgewählt: Das Scheitern der verfassungsstaatlichen Demokratie“ (I.), worin etwa Hindenburg noch einmal als „tickende Zeitbombe des rechtsnationalen Ressentiments im Weimarer Verfassungssystem“ apostrophiert wird (S. 208). Zum berüchtigten Notstandsartikel 48 WRV führt Di Fabio etwa aus: „Das unmittelbare Scheitern der Weimarer Verfassung lag nicht am Regelsystem und auch nicht Art. 48 WRV war per se das Verhängnis, sondern die Art der Amtsführung“ (S. 213). Und er führt aus: „Es kann keinen Zweifel geben: Die Deutschen haben im Sommer 1932 in einer freien, gleichen und geheimen Wahl sehr deutlich die Demokratie abgewählt. Was sie nicht getan haben war, dem rechtsextremen Lager zur Mehrheit zu verhelfen.“ (S. 226)
Gelegentliche Seitenblicke in die Gegenwart runden das Werk ab (S. 142 hinsichtlich der FDP im Jahre 2017), und in einem abschießenden Kapitel (J.) werden „Einsichten und Entwicklungslinien in die Gegenwart“ präsentiert. Danach habe sich der Anteil der Verfassung am Scheitern Weimars doch als geringer erwiesen, als dies herkömmlich zur Erzählung der Bundesrepublik gehöre, und die „demokratische Doppellegitimation von Reichspräsident und Reichstag“ sei kein per se destruktiv wirkender Webfehler gewesen (S. 248). Der Autor ist der Meinung, wir sollten „heute, ein Jahrhundert nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung, die Geschichte nicht nach den Deutungsmustern eines Paul von Hindenburg weitererzählen, wonach das „Gezänk der Parteien“ nun einmal nach einer ordnenden Hand gerufen habe (S. 253).
Den Wertungen des Autors kann man auch in der Summe nur zustimmen. Hinsichtlich der Bewertung des Scheiterns der Weimarer Republik ist bislang zu oft voneinander abgeschrieben worden und wurden frühe Festlegungen immer wieder unreflektiert nacherzählt. Erst ein tiefergehendes Verständnis der Wirkmechanismen sowohl der Verfassung wie der handelnden Akteure kann zu einem faireren Umgang mit der „WRV“ führen. Einzig hinsichtlich der Doppellegitimation möchte man Di Fabio ein wenig widersprechen; sie war in der Tat fatal. Der Bösewicht in der Erzählung war aber der Reichspräsident von Hindenburg, nach dem leider in Deutschland bis heute noch zahlreiche Straßen benannt sind. Solche autoritären Typen existieren auch heute noch in Bereichen, die keiner effektiven Kontrolle unterzogen sind: in Parteien, Verbänden und Vereinen, die sich hinter Gemeinwohl und Gemeinnützigkeit sowie Ehrenamtsfloskeln verstecken. Das Kind darf freilich auch nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden, weswegen auch hier nachgerade verantwortliche Juristen gefragt sind, die an vielen Stellen dem Recht auf den Weg helfen können, anstatt einsamen „Entscheidern“ (dies ist ein Unwort der Gegenwart) zu Willen zu sein.
Dem Band sei eine weite Verbreitung gerade unter jungen Juristen gewünscht.
Udo Di Fabio, Die Weimarer Reichsverfassung. Aufbruch und Scheitern, 1. Aufl., Verlag C. H. Beck, München 2018, 296 S., 19, 95 Euro (ISBN 9783406723889)