Wenn Papayas zum Problem werden

Die bolivianische Richterin Sonia Alanoca (27) schlichtet im Hochland Streitigkeiten zwischen verfehdeten Indianergemeinden

Von Benedikt Vallendar

drum-herum-vallendar-papayas-soniaviLa Paz / Potosí – „Eigentlich ist das kein Fahrzeug für solche Straßen“, sagt Sonia Alanoca (27). Die Juristin aus La Paz schaut gequält nach hinten. Seit 2008 arbeitet die junge Frau als Richterin an einem Bezirksgericht in der bolivianischen Hauptstadt. Strafsachen und Zivilrechtsklagen sind ihr Fachgebiet. Doch heute ist sie mit einem anderen Auftrag unterwegs. Alanoca soll im Altiplano, dem bolivianischen Hochland, Streit zwischen zerstrittenen Indianergemeinden schlichten. Verschiedene  Nichtregierungsorganisationen (NGO), darunter die deutsche Caritas, haben die junge Frau vor drei Jahren als Mediatorin engagiert. Im April 2007 hatte sie ihren ersten Einsatz. Da stand sie in La Paz noch in den Prüfungen an der juristischen Fakultät und wurde dennoch schon auf heikle Mission geschickt.

Kontakte ins Ausland

Alanocas Mitfahrer werden bei der Fahrt durchs Hochgebirge ganz schön durchgeschüttelt. Von verträumtem Bergpanorama keine Spur. Ursprünglich wollte Alanoca nach dem Studium selbst bei einer NGO anfangen, denn als Studentin hatte sie auf dem Gebiet bereits Erfahrungen gesammelt. Alanoca arbeitete sich in internationales Privatrecht, Handelsrecht sowie Fragen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit zwischen Bolivien und der Europäischen Union ein und knüpfte schon während ihrer Schulzeit Kontakte ins Ausland, unter anderem zu den kirchlichen Hilfswerken Misereor in Aachen und Brot für die Welt in Stuttgart. Kurz nach ihrem Examen an der Universidad Mayor de San Andrés, die die älteste Hochschule Boliviens ist,  kam das Angebot, in den Dienst der Justiz zu treten.

Die juristische Karriere war der jungen Frau nicht in die Wiege gelegt. Als jüngstes von elf Geschwistern starb die Mutter bei ihrer Geburt. Die Brüder kümmerten sich um Sonia und sorgten dafür, dass sie auf einer katholischen Ordensschule in La Paz ihr Abitur und anschließend studieren konnte. Sonias Vater lebt als Wittwer noch immer auf dem Altiplano, da wo seine Tochter heute nur noch zeitweilig arbeitet. Einmal im Monat besucht sie ihn. Alanoca hat inzwischen eine eigene kleine Wohnung zur Miete im wohlhabenden Stadtteil Irpavi in La Paz, von wo sie morgens mit dem Taxi zur Arbeit fährt.  Mit umgerechnet 300 Euro Monatslohn verdient sie mehr als das Dreifache des bolivianischen Durchschnittseinkommens.

Katasterämter nur in größeren Städten

Häufig geht es bei den Streitereien, in die Alanoca involviert ist, um Landbesitztitel, Wasser- und Weiderechte, seltener um Strafsachen. „Solche Dinge regeln die Indianergemeinden heute weitgehend unter sich, ohne staatliche Gerichtsbarkeit, auch wenn das verboten ist“, sagt Alanoca. Seit Boliviens Präsident Evo Morales 2007 die Autonomie der indigenen Gemeinden gestärkt hat, fühlen sich viele Comunidades nicht mehr an die Gesetze des Staates gebunden und üben sich in Selbstjustiz, manchmal mit blutigem Ende, wie erst kürzlich in einem Dorf nordöstlich von La Paz, wo ein vermeintlicher Dieb mit einem brennenden Autoreifen um den Hals öffentlich gelyncht und seine verkohlte Leiche an einem Laternenpfahl aufgehängt wurde. Anschließend bekam die Leiche ein Schild um den Hals mit der Aufschrift „La suerte del ladrón“, zu Deutsch: So wird es jedem Schurken ergehen.

Alanocas Tätigkeit hängt auch mit den administrativen Defiziten in der bolivianischen Justiz zusammen. Katasteramt und Grundbucheintragungen sind, wenn überhaupt,  nur in den Städten üblich. Vererbt und verkauft werden Grundstücke per Handschlag, wie auf dem Pferdemarkt. Die Begrenzungen legen die Parteien durch natürliche Gegebenheiten wie Sträucher und Bäche fest. Mitunter mit fatalen Folgen, wenn die Grenzziehung ungenau war oder, was häufig vorkommt, Grenzziehungen auf andere Grundstücke ohne Wissen der Eigentümer übergreift und dort gebaut wird.

Manchmal werden auf dem Land auch hinterzogene Mitgiften oder Erbschaften zum Problem. Unterstützung erhalten solche Mediatorenprogramme, in die Juristen wie Sonia Alanoca eingebunden sind,  seit 2001 aus deutschen Entwicklungshilfemitteln, denn der bolivianische Staat hat für moderne Formen der Konfliktbewältigung wenig Verständnis und noch weniger Geld. „Diese Programme sparen Ressourcen und verhindern, dass es wegen ungelöster Rechtsfragen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt“, sagt Alanoca. Die Regierung übt sich derweil in Rhetorik, indem sie die angebliche „Fortschrittlichkeit“ des bolivianischen Rechtssystems preist.

Der alte Toyota quält sich noch immer über Stock und Stein, entlang einer holprigen Bergpiste auf knapp 3.600 Metern Höhe. „Nur nicht nach rechts aus dem Fenster schauen“, rät Alanoca den Mitreisenden. Es schaukelt und ruckelt, die Straße ist steinig und uneben. Knapp einen Meter neben der Autotür geht es mehr als 400 Meter in die Tiefe. Nur ein kleiner Fahrfehler, ein unvorhergesehenes Hindernis, ein paar Steine oder ein quer liegender Baumstamm und das Auto kippt in die Tiefe. Es wäre nicht das erste Mal. Fast täglich berichten Lokalzeitungen über tödliche Unfälle in dieser unwirtlichen Gegend. Fahrfehler sind kaum zu vermeiden, denn außer dieser einen gibt es hier keine anderen Verkehrsverbindungen.

Alanoca, ihr Fahrer und zwei Begleiter sind auf dem Weg in die Siedlung San Cristóbal, wo heute mehrere Indianerfamilien Landwirtschaft für den Eigenbedarf betreiben. Nach zwei weiteren Stunden erreichen sie das Gehöft. Die letzten zwei Kilometer muss die Gruppe laufen, denn den Rückweg würde das altersschwache Fahrzeug japanischer Bauart nicht schaffen „Noch bis in die 1950er Jahre befand sich auf dem Gelände eine Hacienda, eine Großfarm im Stil der spanischen Kolonialzeit, die auch so betrieben wurde“, sagt Alanoca. Der Hacendero, der letzte war ein nach Bolivien ausgewanderter Deutscher,  lebte dort mit seiner Familie und dem Gesinde, das dafür sorgte, dass es den Herren an nichts fehlte.

Morbider Charme

Das Herrenhaus ist heute verfallen. Allein ein paar Säulen, Teile des Innenhofs und die Reste eines kleinen Pools sind erhalten. In den Ecken liegt Schutt und durch das offene Dach scheint die Sonne. Das alte Schwimmbecken ist voller Laub und verdorrter Äste. Heute leben auf der ehemaligen Hacienda sieben Familien, Quechua-Indianer, die die umliegenden Äcker mehr schlecht als recht bewirtschaften. Handarbeit, ein Ochsengespann und viel Subsistenzwirtschaft bestimmen den Arbeitsalltag der Campesinos. Ihre Kinder schicken sie manchmal im entfernten Potosí zur Schule, wenn denn ein Fahrzeug vorbeikommt, was nicht häufig geschieht. So bleiben die Kinder zu Hause, helfen den Eltern, bleiben, trotz offizieller Schulpflicht, Analphabeten und werden oft genug selber früh Eltern.

Den Spaniern die Stirn geboten

Die ehemalige Hacienda liegt in einem Tal, unweit eines Flusses, so dass die Böden sehr fruchtbar sind. „Leider können sich die Familien kein teures Ackergerät leisten, so dass die Erträge mehr als dürftig sind“, erklärt Sonia. Der Grund ihres Besuchs? Eine benachbarte Indianergemeinde, deren Äcker an die der San Cristóbal grenzen, erhebt Anspruch auf eine Parzelle gut tragender Papayabäume. „Angeblich hat sich einer der früheren Besitzer die Bäume illegal angeeignet, indem er einem Nachbarn einen Privatkredit zu überhöhten Zinsen gewährt hatte, den dieser dann nicht zurückzahlen konnte“, sagt die junge Richterin. Papayas gelten als Delikatesse, nicht nur in Bolivien. Sie enthalten süßes Fruchtfleisch, sind anspruchslos im Anbau und lassen sich, gemessen an bolivianischen Verhältnissen, gut verkaufen. Auf dem Markt in Potosí kann eine vier Kilo-Papaya schon mal bis zu einen US-Dollar, also sieben Bolivianos einbringen. In europäischen Supermärkten kostet allein das Kilo bis zu zehn Euro, je nach Saison. „Ja, auch Papayas können zum Problem werden“, sagt Sonia lächelnd. Vor der Eingangstür zu einem der kleinen Bauernhäuser wartet Roberto Menéndez (47), einer der Campesinos, auf den Besuch. Per Handy hatte sich die Gruppe um die Richterin Alanoca angekündigt. Mit Strom ist mittlerweile auch der letzte Winkel Boliviens versorgt. In dieser Hinsicht hat das Land in den vergangenen Jahren große Anstrengungen unternommen. Sonia nimmt die Beschwerde des Bauern auf, macht sich Notizen und wird versuchen, in Gesprächen mit der anderen Partei das Problem zu lösen. „Das wichtigste ist, dass es deswegen zu keinen gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt“, sagt Sonia. Das sei alles schon vorgekommen. Wegen der großen Armut streiten sich die Leute um alles und jedes und schnell kann ein Streit eskalieren. In den kommenden zwei Tagen wird sie damit beschäftigt sein, die Gegenseite zu hören, Protokolle zu verfassen, Aussagen auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen und im Übrigen auf die Rechtslage zu verweisen.

Schlechte Infrastruktur

Alanocas Familie gehört zur Bevölkerungsgruppe der Aymara. Die Aymaras werden von Europäern manchmal spöttisch mit den gallischen Comicfiguren Asterix und Obelix verglichen, weil sie den Spaniern über Jahrhunderte erfolgreich Widerstand geleistet und sich nur oberflächlich vom Kolonialsystem haben assimilieren lassen. Und das bis heute. Dennoch, in Alanocas Familie wird Spanisch und Aymara gesprochen. „Ohne Spanisch kommt heute keiner weiter“, sagt Alanoca. Sie sieht das realistisch, auch wenn die Regierung nicht müde wird, das Selbstbewusstsein der indigenen Völker Boliviens zu stärken, indem sie in den Medien lautstark an deren Traditionen und angebliche „jahrhundertelange Unterdrückung“ durch die Spanier erinnert. „Wir sprechen spanisch, aber wir sind keine Spanier“, sagt Alanoca. Es klingt ein wenig trotzig, wenn sie das sagt. Die Geschichte ihres Landes ist weitaus konfliktreicher verlaufen, als im Mutterland der einstigen Kolonialmacht. Mitte des 16. Jahrhundert hatten die Spanier das Land erobert und unterworfen. In den vergangenen zwei Jahrzehnten, in denen Spanien, trotz der jüngsten Wirtschaftskrise, den Anschluss an die großen Industrienationen geschafft hat, hat es in dem Andenstaat fast nur Stagnation gegeben. Noch immer sind die meisten Fernstraßen im Land unasphaltiert, noch immer gibt es in vielen Regionen kein ausreichendes Trinkwasser, ganz zu schweigen von ärztlicher Versorgung und guter Schulbildung. Mit einem Pro-Kopfeinkommen von rund 1.000 Euro im Jahr steht Bolivien knapp hinter Haiti, dem ärmsten Land Lateinamerikas.

„Die Regierung steckt in einem Dilemma“, sagt Alanoca. Einerseits will sie das Land voranbringen, wie sie es allerorts auf Plakaten und Parolen an Häuserwänden ankündigt. „Andererseits muss Präsident Morales die Befindlichkeiten seiner wichtigsten Anhänger, der indigenen Gemeinden im Auge behalten, die neuerdings mehr denn je auf die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl pochen.

Weitere Informationen:

www.misereor.de

Veröffentlicht von on Mai 10th, 2010 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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