Thomas Claer
Zugegeben, eine gewisse Grundsympathie des Rezensenten hat bei der Auswahl unserer „Scheiben“ bislang stets eine Rolle gespielt. Das ist diesmal aber anders: Es gilt einzig, dem irritierenden Phänomen Annett Louisan auf den Grund zu gehen. Und phänomenal ist sie allemal, die 31-jährige – inzwischen nicht mehr ganz so hellblonde – Blondine, die seit ihrem Debüt „Bohème“ (2005) schon mehr als eine Million Tonträger verkauft und es inzwischen sogar in die Feuilletons geschafft hat.
Stilistisch bewegt sich die Musik, auch auf ihrer nun schon vierten CD „Teilzeithippie“, konsequent zwischen poppigem Chanson und deutschem Schlager. Entscheidend und charakteristisch aber ist der allgegenwärtige Kontrast zwischen Annetts lolitahafter Stimme und den messerscharfen, stets treffenden, mitunter auch komischen Texten, die ihr ganz überwiegend Texter und Produzent Frank Ramond auf den Leib geschrieben hat. Ramond ist ein sehr versierter Texter, der es versteht, so unterschiedlichen Künstlern wie Roger Cicero, Roger Whittaker, Yvonne Catterfeld und Vicky Leandros und sogar Truckstop zuzuarbeiten. Ganz ohne Berührungsängste und sehr geschäftstüchtig ist er, was ihn mit seiner Interpretin verbindet, die ihrerseits seit Neuestem auch Werbung für Unterwäsche macht, aber dafür nicht ein einziges ihrer Lieder selbst getextet oder komponiert hat. Credibility (früher sagte man etwas pathetisch: Glaubwürdigkeit) ist heute offenbar nicht mehr ganz so wichtig. Klar, wer „weiterkommen“ will, kann sich so etwas auch nicht mehr leisten. In so einer Welt spielt auch das Album, vor allem das Titelstück “Teilzeithippie“: Das coole Hippietum erledigt man nebenher, die übrige Zeit wird eifrig Karriere gemacht. Die Vereinigung solcher Gegensätze verkörpert Annett Louisan, die die Songtexte als „sehr nah an mir dran“ empfindet, auch in persona. Ihr kürzlicher Umzug nach Berlin-Kreuzberg in die Oranienstraße sorgte dort für einen nochmaligen Gentrifizierungsschub.
Respekt zu zollen ist ohne Abstriche dem handwerklichen Können ihrer Begleitband und der musikalischen Qualität vieler Songs. Das weitaus stärkste Lied ist das beschwingte „Drück die 1“. Ferner ist der originelle Text des Songs „Die Siezgelegenheit“ hervorzuheben: „In meinen Kreisen sagt man du“, heißt es dort, aber die „Distanz“ des Siezens „macht interessant“. Im übrigen lässt sich Annett Louisan in ihren Liedtexten als puppenhafte Kunstfigur inszenieren, die bestimmten erotischen Männerträumen entsprechen mag und doch jederzeit alle Fäden in der Hand behält. Eine selbstbewusste Frau, so kommt es rüber, die sich nimmt, worauf sie gerade Lust hat, ohne Rücksicht auf Verluste. Das macht die Fans anscheinend erst so richtig scharf. Das Urteil lautet befriedigend (8 Punkte).
Annett Louisan
Teilzeithippie
Sony BMG 2008
Ca. € 17,-
ASIN: B001F4Z6NQ