Peter Sloterdijks fulminanter Essay “Die Reue des Prometheus”
Thomas Claer
Gibt es eigentlich nicht schon mehr als genug alarmistische Publikationen zum bevorstehenden Klimawandel? Ist denn nicht längst schon wirklich alles darüber gesagt? Nun, das mag schon sein. Doch so pointiert und originell wie nun von Peter Sloterdijk, dem einstigen Enfant terrible der deutschen Philosophie, haben wir es bislang noch nicht gehört. Dabei schien Sloterdijk als Buchautor, man muss es so sagen, zuletzt schon auf dem absteigenden Ast zu sein. Nach den grandiosen “Schrecklichen Kindern der Neuzeit” (2014) mit dem überaus witzigen Kapitel über Jesus von Nazareth wurden seine Werke zuletzt zusehends verschwurbelter und fremdwortüberladener. Doch nun ist er gottlob wieder zugänglicher geworden, fast schon allgemeinverständlich. Nicht zufällig endet sein schmales Bändchen, das man beinahe ein Manifest nennen könnte, mit den an zwei prominente Kollegen angelehnten Worten: “Fire-Fighters aller Länder, dämmt die Brände ein!”
Er redet nun Tacheles, nimmt kein Blatt vor den Mund und positioniert sich politisch – nach all den Irritationen der vergangenen Jahrzehnte – nunmehr eindeutig im aufgeklärt-demokratisch-ökologischen Lager. Na gut, ein paar ironische Spitzen gegen die immer zu optimistischen Freunde des Fortschritts kann er sich auch diesmal nicht verkneifen. Aber dafür teilt er auch ordentlich aus gegen die in seinen Augen Hauptschuldigen am sich vor unseren Augen vollziehenden Weltenbrand durch Verfeuerung unserer “unterirdischen Wälder”: “Es ist eine brandstifterische Elite von Ingenieuren und interkontinental operierenden Handelsgesellschaften, die – vom Europa des späten 18. Jahrhunderts, danach von den USA ausgehend – ein weltweites Netzwerk von nahezu schicksalhaften, bis auf weiteres fast irreversiblen Energieabhängigkeiten geschaffen hat.” Vor allem adressiert er seinen Vorwurf dabei an die rohstoffreichen Länder, die keinen Millimeter von ihren unheilvollen Geschäftsmodellen abrücken wollen: “Die Vorsprecher der pyromanischen Internationale machen keinen Hehl aus ihrer Absicht, den Sektor der flüssigen und gasförmigen Brennstoffe den wachsenden Anforderungen eines zuverlässig blinden und gierigen Weltmarkts anzupassen.” Und: “Ohne Zweifel wird man die aktuellen Praktiken eines Tages, bei nahender Erschöpfung der Vorkommen, als Extraktionsverbrechen verurteilen, so wie man heute viele Aspekte des Kolonialismus verurteilt… Die Malignität des bestehenden Systems manifestiert sich besonders grell an einem rein fossil-parasitischen System wie Russland, das außer seinen flüssigen und gasförmigen Bodenschätzen nur einen einzigartigen Exportüberschuss an Lügen und gewollter Demoralisierung vorzuweisen hat.” Nimm das, Putin! (Diesen bezeichnet Sloterdijk übrigens en passant sehr treffend als “die momentan evidenteste Personifikation eines Feindes des Menschengeschlechts”.) Hinsichtlich der Araber heißt es: “Die Öl- und Gasdespotien… fürchten die Emanzipation ihrer oft noch in stammesfamiliären, gelegentlich halb sklavischen Mentalitätsverhältnissen fixierten Populationen, besonders was deren weibliche Hälften betrifft.” Und über China schreibt er: “Ein nahezu lückenloses, die Generationen übergreifendes System permanenter Gehirnwäsche generiert bei der Mehrheit der Subjekte forcierter Sinisierung eine Art von Einverständnis, zu dessen Deutung und Prognose man in die Archive einer schwarzen Sozialpsychologie zurückgehen müsste.”
Doch natürlich kriegen auch wir westlichen Wohlstandsmenschen unser Fett weg, und das nicht zu knapp: “Die in die Produktion einschießenden Exzesse an fossilen Energien des 19. und 20. Jahrhunderts trieben den Massenausstoß von Gütern in solchem Maße voran, dass aus den abhängig Beschäftigten der Industriegesellschaftsära mehr und mehr auch eine Population von Konsumenten übernotwendiger Güter werden musste… Oscar Wildes Bonmot ‘Lasst mich in Luxus schwelgen, auf das Notwendige kann ich verzichten!’ ist in den Snobismus der Massen eingegangen.” … “Eine extensive und invasive Gesundheits-, Schönheits- und Wellness-Industrie überflutet die entfalteten Freizeitgesellschaften mit weiteren Angeboten an Mitteln zur Selbstsorge und zum Selbstgenuss… Daher gleichen moderne Gesellschaften eher Konsumvereinen…” “So ergibt sich für jeden erwachsenen Angehörigen der Industriegesellschaften ein Zuschuss an disponibler Kraft, der (je nach seinem oder ihrem Aufwand an Mobilität, Reisetätigkeit, Garderobe, Wohnkultur und Tischkonsum) dem Leistungsvermögen von zwanzig bis fünfzig Haushaltssklaven entspräche, in einzelnen Fällen sehr viel mehr… Die Erwartungen in Bezug auf Teilhabe an den quasi anonym und massenhaft anströmenden Überflussgütern wurden für große Mehrheiten zu einer zweiten Natur. … An zahlreichen Erzeugnissen, auch solchen, die man inzwischen für basal hält, lässt sich ein Aspekt von Abhängigkeiten beobachten, die Analogien zum Drogenkonsum aufweisen… darstellbar an den unterschiedlichen Entzugserscheinungen bei gelegentlichem Fehlen von Nachschub…” Hinzu kommt: “Die fleischproduzierende Industrie hat sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem globalen Gulag der Tiere entwickelt.” Das vierte Kapitel “Moderne Welt. Die Ausbeutungsverschiebung”, aus dem die meisten hier aufgeführten Zitate stammen, kann man als besonderen Höhepunkt von Sloterdijks Formulierungskünsten, nicht nur innerhalb dieses Buches, ansehen.
Doch wie realistisch ist es denn nun, dass die globale Klimakatastrophe noch abgewendet oder zumindest abgemildert oder auch nur ein wenig verzögert werden kann? Laut Sloterdijks Analyse hätte dazu längst den rohstoffreichen Ländern das Eigentum an ihren jeweiligen Vorräten entzogen und in die Zuständigkeit internationaler Organisationen überführt werden müssen. “Was man die Vereinten Nationen nennt, wäre eine weniger farcenhafte Organisation, wenn sie rechtzeitig die Macht gefordert und erlangt hätte, aus dem Gebot der Bewahrung des Weltbodenschatzes geltendes Recht zu schaffen.” Doch da solche radikalen Schritte derzeit kaum umsetzbar erscheinen, bleibt am Ende nur große Skepsis und das Prinzip Hoffnung, auch im Hinblick auf neue Technologien, die mit der Zeit einen sparsameren und effizienteren Energieverbrauch ermöglichen könnten. Im Schlusskapitel untersucht Sloterdijk noch die Positionen der “ökologischen Leninisten” (u.a. “Letzte Generation”) versus der “ökologischen Sozialdemokratie” und ergreift Partei für letztere.
Betrachtet man allerdings aktuell den Aufschrei in unserer ganz überwiegend in absurdem Luxus – siehe oben – schwelgenden Wohlstandsgesellschaft angesichts des von der Ampelkoalition geplanten neuen Heizungsgesetzes, dann gibt es wohl leider nicht viel Anlass zu Optimismus für einen rechtzeitigen und erfolgreichen ökologischen Umbau.
Peter Sloterdijk
Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung
Suhrkamp Verlag 2023
79 Seiten; 12,00 Euro
ISBN: 978-3-518-02985-5