DDR brutal

Stephan Krawczyk hat ein neues Buch herausgebracht

Matthias Wiemers

Der Autor dieser Zeilen stammt aus Ostwestfalen, was bekanntlich im Westen der Republik, in der alten Bundesrepublik liegt. Verwandte in der DDR hatten wir nicht. Der Namen des DDR-Bürgerrechtlers Stephan Krawczyk kam mir daher erst in der so genannten Wende-Zeit 1989/90 in den Sinn. Er wurde damals immer gemeinsam mit dem Namen Freya Klier genannt. Er war Liedermacher, sie vor allem Regisseurin. Vor kurzem nun habe ich in Frankfurt Stephan Krawczyk im Rahmen eines Konzerts im kleinen Kreis kennengelernt. Wir kamen auf sein neues Buch zu sprechen, das ich sogleich versprach, für ihn zu besprechen. Das Buch kam prompt.
Das Buch ist soeben unter Herausgeberschaft des Stasi-Museums Berlin erschienen und ist so handlich und klein, dass es den Namen „Taschenbuch“ nicht nur verdient, weil es tatsächlich in jede Sakkotasche passt. Es hat es auch inhaltlich verdient, von möglichst vielen jungen Leuten gelesen zu werden, die sich nicht wie ich an die Zeit der deutschen Wiedervereinigung erinnern und schon gar nicht an die Namen der damaligen Akteure. Vor allem aber (angehenden) Juristen bietet das Bändchen von nur 142 Seiten reichliches Anschauungsmaterial dafür, wie es sein kann, wenn man nicht in einem Rechtsstaat lebt.
Stephan Krawczyk hat hierzu Zeitzeugen interviewt, die unmittelbar von Schikanemaßnahmen des SED-Staats betroffen waren. Schon der erste Bericht zeigt auf, wie Häftlinge in der DDR nicht nur sinnvoll beschäftigt wurden, sondern vorsätzlich ausgebeutet (wie wir im letzten Jahr vom BVerfG gehört haben, müssen die Bezüge von Häftlingen nun auch in der BRD erhöht werden). Auch erfahren wir, wie die DDR versucht hat, wegen Republikflucht Verhaftete damit unter Druck zu setzen, dass man ihnen die Entlassung und auch Vergünstigungen in Aussicht stellte, wenn sie nur den Ausreiseantrag zurückzögen. Ein Briefkasten hing im Flur der Haftanstalt: dort konnte man Mithäftlinge anonym anschwärzen – sozusagen Hinweisgeberschutz in analog…
Dann wurde einem suggeriert, er habe eine offene TBC, weil er kurz vor dem Mauerbau eine Lehrstelle in Hamburg antreten wollte. Das falsche Zeugnis des „Kreistuberkulosearztes“ konnte erst im Nachhinein entkräftet werden, als der Betroffene aus der Haft entlassen war, und dies nur, weil inzwischen die Mauer stand. Ganz nebenbei erfährt man auch noch etwas darüber, dass bereits im Dritten Reich viele Perser gelebt haben (der Schah-Besuch mit den „Jubelpersern“ 1967 in Berlin hatte also gewissermaßen eine längere Vorgeschichte). Im Kontext des Falls einer persischen Familie erfährt man auch, welcher Aufwand betrieben wurde, um zu verhindern, dass publik wurde, dass jemand in Bautzen in der Lausitz einsaß: die beiden persischen Brüder wurden zum Empfang des Besuchs der Mutter extra nach Ostberlin gefahren – damit sie nicht wie beim Erstbesuch in der Eisenbahn über ihren Zielort Bautzen plaudern konnte.
Auch wird berichtet, wie ein Lehrer-Vater seinen eigenen Sohn bei der Stasi anzeigt – und damit weitere Menschen mit in die Verfolgung zieht. Nur weil der Pädagoge mit seinem eigenen Sohn nicht mehr fertig wurde.
Auch die Wahrheit konnte „staatsfeindliche Hetze“ sein, lernt einer der Protagonisten. Und dieser berichtet auch, wie die Vernehmungen bei der Stasi Grundlage für die Ausfüllung eines „Katalogs offener Straftaten“ genutzt werden konnte, wenn man Menschen politisch verfolgen wollte. Ältere Wachleute verhielten sich manchmal anständig, jüngere waren Fanatiker. Mehrere Zeugen des Bandes berichten von den Haftbedingungen und von der Kommunikation zwischen Häftlingen über die Toilettenanlagen der Haftanstalten. Hierzu musste man aber erstmal das Wasser aus dem Abflussrohr herausbringen.
Es taucht auch das Phänomen des Häftlingsfreikaufs auf, der m. W. besonders in den Achtzigerjahren, in der Endphase des Regimes, eine zunehmende Rolle spielte. Widerständige Jugendliche, die vielleicht ein Plakat gemalt hatten – im beschriebenen Fall war das Plakat nicht einmal zur Veröffentlichung gekommen – bekamen Haftstrafen wie Schwerverbrecher – und wurden damit für die Freikäufer der BRD „teurer“, erhöhten also die Einnahmen für den Staatshaushalt der DDR (lesenswert: Ludwig Rehlinger (1927-2023), Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten, 1991 (Neuauflage 2011).
Cottbus war der Freikaufknast. Dort saß man die letzte Zeit vor der Abschiebung via Freikauf nach Westen. Aber die Unmenschen des Justizapparats schickten immer mehrere Personen qua Gefangenentransport in diese Stadt – und ließen einen Teil von denen wieder zurückreisen.
Bei der Entlassung nötigte Man Häftlinge, aus Beständen der DDR neue Kleidungsstücke zu kaufen, damit das wenige in der Haftzeit verdiente Geld gleich wieder zusammenschmolz. Linkshänderkindern wurde die linke Hand auf den Rücken gebunden, Jugendlicher chemischer Folter durch Spritzen unterzogen, Häftlinge wurden im Knast nur durch eine Nummer angesprochen. Wärter kannten ihre Namen nichtmal. Akkordarbeitern in Haft wurde suggeriert, Mehrarbeit brächte Extralohn, der den eigenen Kindern ausbezahlt würde. Es war eine Lüge.
Wer heute noch glaubt, der Sozialismus der DDR sei doch eine ganz gute Idee gewesen, die nur schlecht verwirklicht worden sei, der sollte dingend dieses Buch lesen. An vielen Stellen schimmert auch ein durchaus robuster Humor durch. Ganz überwiegend ist es allerdings tieftraurig.

Nachtrag aus aktuellem Anlass: Wer die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Oktober zur Verfassungswidrigkeit von § 362 Nr. 5 StPO noch nicht verstanden hat, der sollte nochmal über sein Verhältnis zum Rechtsstaat nachdenken. Vielleicht hilft ihm die Lektüre der verdienstvollen „Fallsammlung“ von Stephan Krawczyk. Prädikat: lesenswert!

Stephan Krawczyk
Gelöste Stimmen: Berichte vom Widerstehen in der DDR
Metropol-Verlag, 1. Auflage 2023 (Taschenbuch)
141 Seiten; 16,00 Euro
ISBN-10: ‎ 3863317211

Veröffentlicht von on Nov 13th, 2023 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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