Von Hartz IV zum Bürgergeld

Ein altbewährter Kommentar ist neu erschienen

Matthias Wiemers

Der dysfunktionale Staat Bundesrepublik Deutschland wird von einer zentralen, nur halbherzig dezentralisierten Bundesverwaltung gesteuert, deren Handlungsmaßstab das Sozialgesetzbuch Teil II ist. So war es gleich zu Beginn des Ukraine-Krieges so, dass Flüchtlinge von dort sogleich den Jobcentern zugewiesen wurden, weil Ausländerämter bundesweit nicht funktionieren. Dies bedeutet zwar eine Vereinfachung, aber die Probleme der Ausländerämter scheinen gleichwohl hausgemacht (So ist vermutlich deswegen 2007 oder 2008 die letzte Allgemeine Verwaltungsvorschrift im Ausländerrecht ergangen, weil diese AVVs bei den ubiquitären Bemühungen um Bürokratieabbau mitzählen – spare Verwaltungsvorschriften, so kannst Du Gesetze erlassen…).

Das hier durchaus kritisch gesehene Gesetz hat von Anfang an viel bürokratischen Aufwand ausgelöst. Hunderte von Stellen wurden nicht nur in der Sozialverwaltung, sondern auch an deutschen Sozialgerichten geschaffen. Denn spezialisierte Anwälte können hier ein echtes Massengeschäft generieren, das sich gut durch gut ausgebildetes Personal in den Kanzleien abwickeln lässt.
Der hier zu besprechende „Lehr- und Praxiskommentar“ aus dem Nomos Verlag erschien erstmals pünktlich zum Inkrafttreten des „Hartz-IV-Gesetzes“ zum 1. Januar 2005, und im Sommer 2009 lag bereits die dem Rezensenten vorliegende dritte Auflage vor – mit damals 919 Seiten, etwas dickerem Papier und einem mir heute unbekannten Verkaufspreis. Die jetzt vorgelegte achte Auflage ist äußerlich deutlich dünner, weist aber tatsächlich nicht weniger als 1764 Seiten auf. Irgendwo, so möchte man feststellen, müssen sich ja die stattgefundenen Gerichtsverfahren und vor allem Detailregelungen aus dem Verwaltungsvollzug niederschlagen. Lautete der Untertitel des Kommentars früher „Grundsicherung für Arbeitssuchende“, so ist dem nunmehr noch der Begriff „Bürgergeld“ in einer gesonderten Zeile vorangestellt. Dies ist – wir erfahren es aus dem neuen Vorwort – der geänderten Bezeichnung des Gesetzes zu entnehmen. Die Einleitung ist von den drei Herausgebern und im hinteren Teil vom Bearbeiter Albert Hofmann verfasst und bringt uns die oben angedeutete Entwicklungsgeschichte des Gesetzes bis hin zur Neubekanntmachung durch das Bürgergeld-Gesetz. Dies ist auch für den Praktiker, mehr noch für die Personen, die sich erstmals auch zu Ausbildungszwecken mit der Materie beschäftigen, eine wertvolle Erkenntnisquelle. Die Herausgeber sehen die aktuelle Reform durchaus positiv, werfen aber gleichwohl die Frage auf, ob der vom Gesetzgeber angestrebte Mentalitätswandel im Verhältnis von Jobcenter zu Leistungsberechtigten zu realisieren, werde sich zeigen (Rdnr. 27 a. E.). Interessant ist hier auch der Abschnitt 5 „Zur Auslegung des SGB II“, worin zunächst betont wird, das SGB II sei ordnungsgemäß zustandegekommen. Es sei – auch wenn man es rechts- und gesellschaftspolitisch für fragwürdig halte, anzuwenden. Diese Bemerkungen überraschen doch sehr, da sie absolut ungewöhnlich sind. Die Jobcenter sind an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 III GG) und für die Anspruchsberechtigten gibt es wohl kaum zu klagen, da sie fast durchgängig bessergestellt werden. Es werden auch Hinweise zur gegebenenfalls notwendigen verfassungskonformen Auslegung gegeben und die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde angedeutet. Weiterhin enthält die Einleitung wichtiges statistisches Material und macht auch Aussagen zur vielzitierten versteckten Arbeitslosigkeit, etwa bei Teilnehmern in Fördermaßnahmen (Rdnr. 46). Dies sind unschätzbare Informationen, die der Praktiker insbesondere durch die angesichts der Materie ohnehin überforderten Massenmedien nicht erhält. § 1 SGB II, der Aufgabe und Ziel der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausführlich festhält, wird ebenfalls von den Herausgebern kommentiert. Was die Autoren allerdings mit „Gesetzesvorrang des art. 1 Abs 3 GG“ (Rdnr. 3) meinen, bleibt ihr Geheimnis. Natürlich kann man argumentieren, der Gesetzgeber habe mit der ausdrücklichen Aufnahme des Menschenwürdeziels in Absatz 1 – analog dem SGB XII – den Anwendern des Gesetzes sozusagen Informationen aus einer Hand gegeben wollen, aber man darf doch bezweifeln, dass die immer weiter fortgeführte Überfrachtung des SGB insgesamt bei Anwendern auf Gegenliebe stößt. Den Leser mag es überraschen, dass der inzwischen pensionierte Richter am BVerwG Uwe Berlit noch immer § 2 kommentiert hat. Beim Blick in die Kommentierung sieht man aber, dass es ihm sehr um den Vergleich zum SGB XII geht, das er an anderer Stelle ebenfalls kommentiert hat und das bekanntlich früher – als BSHG – in die Zuständigkeit der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit fiel. Die vergleichende Betrachtung beider Gesetze ist natürlich zu loben – zumal die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bedarfsermittlung hier übereinstimmen.
Zu den weiteren Kommentierungen ist zu sagen, dass sie jeweils das zugehörige Verordnungsrecht integrierend behandeln, so dass der Praktiker die Informationen an den Stellen erhält, an denen er sie benötigt. Die nachgewiesene Rechtsprechung ist übersichtlich in den Fußnoten untergebracht, und das vorangestellte Literaturverzeichnis bildet die gängigen Kommentierungen und Monographien ab, die auch für den Praktiker relativ leicht erreichbar sind. Angesichts der immer weitergehenden Ausdifferenzierung des Sozialrechts, die sich gewissermaßen in einem Wettlauf mit dem Systematisierungsansatz des vor über vier Jahrzehnten begonnenen Sozialgesetzbuchs befindet, darf der Rezensent den Wunsch äußern, dass der Gesetzgeber künftig den Versuch unternehmen möge, auch das SGB wieder etwas zu verschlanken. Hierbei dann eventuell entstehende Lücken zu schließen wäre dann wiederum Aufgabe so gelungener Kommentare wie dem „Münder“. Nicht nur die Praktiker, sondern nicht zuletzt auch Studierende an deutschen Hochschulen, denen die Komplexität des Sozialrechts erschlossen werden muss, nähmen beides gewiss dankbar an.

Münder / Geiger / Lenze (Hrsg.), SGB II: Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende. Lehr- und Praxiskommentar, Nomos Verlag, 8. Auflage 2023, 1600 Seiten-, 84,00 Euro, ISBN 978-3-8487-7578-1

Veröffentlicht von on Nov. 20th, 2023 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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