Posthum sind die umfangreichen und zugleich knappen „Erinnerungen“ erschienen
Matthias Wiemers
Wer sich mit Wolfgang Schäuble und seiner Biographie beschäftigt, muss unweigerlich an Helmut Kohl denken – auch an seine „Erinnerungen“, die von 2004 bis 2007 in drei sehr voluminösen Bänden erschienen, und über die sich seine Witwe bis heute mit dem Ghostwriter streitet. Wolfgang Schäubles Arbeit hebt sich deutlich von diesem „Auftragswerk“ ab, da auf der ersten Aufschlagsseite sogleich publik gemacht wird, dass er in Hilmar Sack und Jens Hacke zwei Mitarbeiter hatte.
Der Untertitel lautet „Mein Leben in der Politik“, und so wird schon auf dem Titel angedeutet, dass Privates nicht im Vordergrund des Bandes stehen würde. Und in der Tat: Im Vergleich zur Biographie von Ulrich Reitz über Wolfgang Schäuble (1996) kommt hier die Familie kaum vor. Wir erfahren praktisch gerade einmal, wann die drei Töchter und ein Sohn geboren wurden und dass die Ehefrau einen besser bezahlten Job bei einem Pharmaunternehmen für die Familie aufgab. Überhaupt: Die Ehefrau Ingeborg war der wichtigste Mensch in Schäubles Leben, dies scheint in dem gut lesbaren Band immer wieder durch.
Was Helmut Kohl nicht geschafft hat, schafft Schäuble auf gut 600 Seiten: seinen gesamten Werdegang in der Politik dazustellen und stets ausgewogene Urteile über Weggefährten abzugeben – auch wenn man sieht, dass es nicht immer „die“ Bewertung einer Person gibt, dass vielmehr die Menschen von verschiedenen Seiten zu betrachten sind – auch wenn der Bruch mit Kohl im Text eindeutig markiert ist: „Wir sprachen danach nie wieder miteinander.“ (S. 385). Besonders interessant ist die Schilderung des Verhältnisses zu Schäubles Kollegen Thomas de Maiziere (, dessen Cousin Lothar er als Freund bezeichnet), der Schäubles Nachfolger als Bundesinnenminister wurde. Auffallend positiv ist hingegen das von Schäuble gezeichnete Bild Helmut Schmidts – vor allem im Hinblick auf die Tatsache, dass der abgewählte Bundeskanzler dem neuen Kanzleramtsminister 1984 eine Einführung in die Organisation des Bundeskanzleramts gab (S. 145 ff.). Schon früher erklärt er: „Schmidt wurde für mich zum Vorbild, wie man sich in Ausnahmesituationen zu verhalten hat, wie man die Dramatik einer Lage und notwendige Entscheidungen durch bedachte Kommunikation so vermitteln kann, dass daraus erfolgreiche Führung wird“ (S. 103).
Der Rezensent hat bei der Lektüre seine persönlichen Erinnerungen an politische Vorgänge, die etwa zur Zeit des „Deutschen Herbstes“ einsetzen und die besonders in der Endphase der Kohl-Ära vertieft wurden, anhand dieser ausgezeichneten Darstellung gelebter Zeitgeschichte nacherinnern können. Für ihn stand Wolfgang Schäuble dafür, dass es noch eine personelle Alternative in der Union geben könnte, und zwar eine, die selbst über zukunftsträchtige politische Alternativen nachdenken kann. (Noch heute ist mir in Erinnerung, wie Schäuble zaghaft die Einführung einer höheren Besteuerung von Energie vorschlug und das Ganze namentlich von der CSU wieder abgeräumt wurde (S. 470 ff.). Dort konnte ich auch zum ersten Mal in einem Politikerbuch lesen, der Autor sei generell kein Anhänger von differenzierten Mehrwertsteuersätzen (S. 471). (Ja, welche Großtat der Entbürokratisierung in Deutschland stellte es dar, wenn man heute die Mehrwertsteuer einheitlich auf 15 oder 16 % festlegte. Von einem Finanzminister oder auch nur von einem Verband, der ständig von Entbürokratisierung spricht, habe ich das noch nicht gehört.). Schäuble bleibt immer höflich, aber es wird schon deutlich, von wem er enttäuscht wurde (z. B. S. 554 f.). Merkel jedenfalls – so wird deutlich – war der CSU nicht gewachsen. Zu ihr sei eine Passage aus dem Schlusskapitel zitiert: „Die vielgepriesene nüchterne Bedächtigkeit, die ihr und ihrem Politikstil zugeschrieben wird, kontrastiert jedenfalls gerade mit den Entscheidungen in ihrer Amtszeit, die unzweifelhaft als historisch eingestuft werden können: die Abschaffung der Wehrpflicht, der Umgang mit den in Ungarn gestrandeten Geflüchteten, der Ausstieg aus der Atomenergie und die dadurch eingeläutete Energiewende. Solche deutschen Alleingänge in Europa gehören wohl zu den eigentlich problematischen Momenten dieser Ära, zumal es zunehmend an der Bereitschaft zur korrigierenden Selbstkritik mangelte. Dennoch hat Merkel unser Land in einer schnellen Abfolge tiefgreifender Krisen zweifellos lange stabil regiert. Die Zukunft wird zeigen, welchen Platz ihr die Geschichte zuweist“ (S. 607).
Auch Schäubles Führungsverständnis – was offensichtlich bezogen ist auf das Verhältnis von Regierung und Parlament zueinander – weicht von dem Merkels ab (vgl. S. 606 u. öfter). Wolfgang Schäuble hat nicht nur 51 Jahre im Deutschen Bundestags gesessen (und seinen Wahlkreis in Offenburg nicht weniger als 14 Mal direkt errungen), er ist auch der größte Parlamentarier gewesen, den die Bundesrepublik Deutschland je hatte – trotz des Umstands, dass er insgesamt fünfmal ein Ministerium übernahm. Dass viele immer wieder Kritik an ihm übten und er vermutlich nicht in jeder Frage als Minister richtig lag, spricht nicht gegen ihn. Wolfgang Schäuble hat sich den Realitäten gestellt und Dienst am Gemeinwesen geleistet. Wer kann das in einem auch nur ansatzweise vergleichbarem Maß von sich behaupten?
Wolfgang Schäuble
Erinnerungen. Mein Leben in der Politik
Klett-Cotta 2024
656 Seiten; 38,00 Euro
ISBN-10: 3608987045