Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
in meiner Kindheit und frühen Jugend habe ich mich eigentlich immer privilegiert gefühlt, zumindest gemessen an meinem damaligen Umfeld. Denn meine Familie gehörte, damals in der späten DDR-Zeit, zu den Glücklichen im Osten, die über ausgezeichnete West-Kontakte verfügten. Dank West-Onkel, West-Oma und mehreren engen West-Freunden meiner Eltern bekamen wir wohl mindestens zehn große West-Pakete im Jahr geschickt und verfügten somit mutmaßlich über so viele schöne Dinge wie kaum jemand sonst in unserem Land. Stets gab es bei uns West-Kaffee für meinen Vater, West-Strumpfhosen für meine Mutter, West-Kakaopulver für mich und vor allem reichlich West-Schokolade für uns alle. Die meiste Zeit des Jahres hatten wir sogar West-Seife und West-Zahncreme im Bad liegen. Auch wenn insbesondere mein immer etwas ängstlicher Vater – diese Eigenschaft habe ich offensichtlich von ihm geerbt – mir fortwährend einschärfte, ich solle ja nichts von unserem Luxus in der Schule erzählen, ließ sich das alles natürlich kaum vor aller Welt verbergen. Wohl keinen Satz habe ich in meiner Kindheit und Jugend öfter von Freunden und Bekannten gehört als diesen: „Ja IHR habt ja wohl ALLES aus dem Westen…“ Ich lernte also früh, möglichst diskret mit unseren Privilegien umzugehen und mich lieber im Stillen über all die großartigen Sachen zu freuen, die andere nicht hatten. An der Innenseite der Schranktür in meinem Zimmer klebten, was mich mächtig stolz machte, die Aufkleber zahlreicher West-Fußball-Vereine. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, diese in der Öffentlichkeit zu zeigen. Erstens weil das politisch unerwünscht war, zweitens weil das den übergroßen Neid unzähliger Mitmenschen geweckt hätte. Nur ausgewählten Freunden, die bei mir zu Besuch waren, zeigte ich manchmal meine Schätze, und denen kippte dann meist die Kinnlade herunter, und sie erblassten ehrfürchtig. Oft stand ich damals an den Nachmittagen lange allein vor meinem geöffneten Schrank, aus dem es auch noch so verführerisch nach West-Kaugummi und West-Schokolade duftete, weil ich in ihm meine Vorräte aufbewahrte. Und ich staunte über meine gesammelten Habseligkeiten und über mein Glück, so etwas Tolles zu besitzen…
Ein paar Jahre später war ich dann im Westen, wo kein Hahn nach solchen profanen Dingen krähte und ich absolut niemanden mit Fußball-Fanartikeln oder Kaugummis hätte beeindrucken können. All die schönen und leckeren Dinge hatten nunmehr im neuen Umfeld vollkommen ihre Besonderheit und dadurch auch ihren Wert für mich verloren. Es war nun überhaupt kein Problem mehr, sich jederzeit dieses oder jenes anzuschaffen, wonach einem gerade der Sinn stand. Und zweifellos ist es eine Art narzisstische Kränkung für mich gewesen, plötzlich von keinem mehr für meine Besitztümer bewundert zu werden. Im Gegenteil: Ganz unverhohlen ließen mich meine neuen West-Freunde immer wieder spüren, wie sehr sie auf mich herabblickten. Es genügte schon, dass jemand erfuhr, dass ich aus dem Osten kam. Sogleich trug der Betreffende seine Nase ein ganzes Stück höher. Statt wie früher „Du hast aber ein schönes Zimmer.“ hörte ich nun von meinen Besuchern: „Dein Zimmer ist aber potthässlich eingerichtet.“ Na gut, da standen alte Schränke, die mein Vater in seiner Anfangszeit im Westen geschenkt bekommen hatte. Und sie erfüllten ihren Zweck. Auf die Idee, mein Zimmer unter Gesichtspunkten des ästhetischen Designs zu gestalten, war ich, als gerade 17-Jähriger, bis dahin noch nicht gekommen. Für meine Fußball-Wimpel an den Wänden wurde ich ebenso verspottet wie für die altmodische Digital-Uhr an meinem Handgelenk und meinen anfangs noch recht konventionellen Musikgeschmack. Von meinen Mitschülern auf dem snobistischen Gymnasium, das ich besuchte, lernte ich mir bis dahin kaum bekannte Schmähwörter wie prollig oder spießig kennen (die zumeist auf mich gemünzt waren), während die positiven Gegenbegriffe stilvoll oder cool für mich unerreichbar blieben. Kurzum, ich fühlte mich signifikant unterprivilegiert, und das sollte auch noch für längere Zeit so bleiben…
Der erneute Wendepunkt war wohl, als meine Frau und ich vor gut zwei Jahrzehnten nach unserem Studium Westdeutschland verließen und nach Berlin zogen. Anfangs wurden wir für diesen Schritt noch belächelt. „Dort gibt es doch keine Jobs“, hieß es, was ja auch stimmte. Aber für mich war es doch von Anfang an eine Befreiung, auf einmal kein Außenseiter mehr zu sein, sondern nur einer von sehr vielen Zugezogenen aus allen Teilen der Welt. Und in welcher anderen Stadt außer Berlin gehört man schon als dorthin Zugezogener nicht einer Minderheit unter den Bewohnern an, sondern zur Mehrheit?! Was dann aber in den Jahren darauf geschah, kommt mir im Rückblick noch immer ganz märchenhaft vor. Wir verdingten uns als kleine Freiberufler, erwarben nach ein paar Jahren, um uns abzusichern, mit unseren Ersparnissen und elterlichem Zuschuss Wohneigentum zum Spottpreis. Und dann später, weil es so gut geklappt hatte, noch mehr. Und noch später noch mehr mit unserem vergleichsweise überschaubaren Erbe. Berlin begann unterdessen zu boomen, wurde hip und angesagt, ein Sehnsuchtsort für Millionen und schließlich sogar teuer. Erzählt man heute jemandem, dass man in Berlin wohnt, dann erntet man Blicke, die sagen: „Du Glücklicher, das will ich auch.“ Aber mittlerweile sagt niemand mehr, dass es in Berlin keine Jobs gäbe, sondern alle sagen: „Dort gibt es doch keine Wohnungen.“ Es ist schon fast wieder so geworden wie in meiner Kindheit. Man ist privilegiert und immer auf Diskretion bedacht. Darauf, niemanden vor den Kopf zu stoßen oder zu provozieren. Denn man weiß ja schließlich, wie schnell das Blatt sich auch wieder wenden kann…
Dein Johannes