„Old Shatterhand vor Gericht“ von Jürgen Seul
Jean-Claude Alexandre Ho
Wenn im Laufe der Jahrhunderte Schriftsteller vor Gericht sich wiederfanden, dann waren häufig ihre Werke der Zensur zum Opfer gefallen. So traf der Bannstrahl Baudelaires „Blumen des Bösen“. Auch wenn Karl Mays Romane nie der Zensur anheimfielen, so ist „niemals (…) gegen einen deutschen Schriftsteller, niemals gegen einen Schriftsteller der Weltliteratur überhaupt, so grausam verfahren worden wie gegen Karl May“, wie der Kriminologe Erich Wulffen einmal über die zahlreichen Rechtshändel des Karl May schrieb.
Gut hundert Prozesse sind es an der Zahl, die der Jurist und Publizist Jürgen Seul zusammengetragen hat. Für Karl Mays literarischen Werdegang stellte der erste Prozess eine Art Urerfahrung dar. Der junge May arbeitete damals als Lehrer an einer Fabrikschule. Nachdem er einmal eine ausgeliehene Taschenuhr zurückzugeben vergaß, wurde er zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, wahrscheinlich wegen Diebstahl. Aus heutiger Sicht – wie Seul herausarbeitet – wäre May mangels Vorsatzes gar kein strafbares Handeln nachzuweisen. May, dem jede weitere Anstellung als Lehrer verwehrt blieb, wurde fortan kriminell – aus Rache, wie er später schreibt: „Diese Rache sollte darin bestehen, daß ich, der durch die Strafe unter die Verbrecher Geworfene, nun wirklich auch Verbrechen beging.“
Die kriminelle Karriere endete, als Karl May wegen Hochstapelei verurteilt wurde. In den vier Jahren Zuchthaus reifte der Schriftsteller Karl May heran. Seine Erlebnisse vor Gericht haben sich auch in seinen Romanen niedergeschlagen. Gerichtsszenen, in denen der Ich-Erzähler zu Unrecht angeklagt wird und sich nachher als der wahre Ankläger erweist, zögen sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Werk, stellte der Karl-May-Experte Gert Ueding fest. Anders als im Roman gelingt es Karl May aber nicht, seine Unschuld zu beweisen, als er einmal aus zweifelhaften Gründen wegen Amtsanmaßung zu drei Wochen Gefängnis verurteilt wird. Immerhin sollte es seine letzte Haftzeit bleiben.
Mit der Darstellung dieses Verfahrens und einem erhellenden Exkurs zur Kriminalität Karl Mays beschließt Seul den ersten der sechs Teile seiner Karl May-Biographie aus juristischer Sicht. Es folgen die Prozesse der Aufstiegsjahre und der Ehescheidungsprozess. Im vierten und fünften Teil zeichnet Seul die Verlags-Prozesse und Mays Verhältnis zur Presse nach. Der mit Abstand längste und letzte Teil ist den Prozessen gegen Mays Intimfeind Rudolf Lebius vorbehalten. Das eingangs erwähnte Urteil Erich Wulffens über die grausame Behandlung Karl Mays bestätigt sich in den Beleidigungsprozessen gegen Teile der katholischen Presse und vor allem Lebius, mit denen Karl May sich gegen Verleumdungen hinsichtlich seiner Vergangenheit wehren musste.
Mit „Old Shatterhand vor Gericht“ legt Seul, der auch die Juristische Schriftenreihe der Karl-May-Gesellschaft herausgibt, eine etwas andere Karl May-Biographie vor. Ihr Verdienst liegt darin, die Bedeutung der Gerichtsverfahren für Leben und Werk Karl Mays herauszustellen und dabei nicht nur für Juristen eine spannende Lektüre zu versprechen. Ungewohnt findet sich der Anmerkungsapparat jeweils am Ende der sechs Teile des Buches; doch ist dies den zahlreichen, von akribischer Forschungsarbeit zeugenden Fußnoten geschuldet und trägt dazu bei, dass „Old Shatterhand vor Gericht“ mit 624 Seiten gar „Winnetou I“ an Umfang übertrifft. Wie die anderen Bände der Gesammelten Werke ausgestattet und gestaltet, passt „Old Shatterhand vor Gericht“ perfekt in die Bücherwand eines jeden Karl-May-Freundes.
Jürgen Seul, Old Shatterhand vor Gericht.
Die 100 Prozesse des Schriftstellers Karl May,
Karl-May-Verlag Bamberg 2009
978-3-7802-0186-7, € 17,90