Turbulente Zwangsversteigerung

Gerichtsgeschichten aus Berlin, Teil 3

Thomas Claer

Der Berliner Investor und Privatier Johannes K. (Name von der Redaktion geändert) hatte sich über die Jahre ein hübsches Portfolio aus kleinen vermieteten Eigentumswohnungen in Berlin und neuerdings auch andernorts zusammengestellt. Doch einen unerfüllten Wunsch hatte er noch: eine Wohnung in seiner Geburtsstadt W., einem schmucken Städchen an der Ostseeküste, dessen historische Altstadt zum Weltkulturerbe der Unesco zählt. Die Zugverbindung von Berlin nach W. war nicht schlecht. Und dank Deutschlandticket war Johannes K., der sich nie ein Auto, aber dafür immer neue Wohnungen angeschafft hatte, auch jederzeit mobil. Außerdem wusste er, dass es in der Altstadt von W. in Bahnhofsnähe eine Menge kleiner Wohneinheiten gab, die seinerzeit nach der Wende in Eigentumswohnungen umgewandelt worden waren, und diese passten perfekt in sein Beuteschema. Doch waren die dortigen Preise in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten schon in beinahe luftige Höhen geklettert, bevor sie in den letzten drei Jahren – Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise und Zinsanstieg sei Dank – wieder ein ganzes Stück zurückgekommen waren.

Johannes K. legte sich also auf die Lauer und sondierte nun mindestens einmal wöchentlich die Immobilienangebote auf den einschlägigen Plattformen. Lange Zeit vergeblich, doch dann, an einem kalten Februarmorgen, traute er seinen Augen kaum. Er sah seine Traumwohnung – 1 Zimmer, Küche, Bad mit Südbalkon auf 35 qm im 2.OG eines Altbau von 1935, in unmittelbarer Bahnhofsnähe und nicht weit von einem Park gelegen, ein Edeka um die Ecke – in einer Zwangsversteigerung, terminiert schon für Mitte April. Der Verkehrswert, den ein bestellter Gutachter ermittelt hatte, war erschütternd niedrig: 29.600,00 Euro. Wie konnte das sein?! Gewissenhaft las Johannes K. das auf der ZVG-Seite frei verfügbare umfangreiche Sachverständigengutachten. Mit der Wohnung war soweit alles in Ordnung, nur war sie unbefristet und zu marktüblichen Konditionen vermietet, was ihren Wert selbstredend nach allen herangezogenen Bewertungsmodellen rasant auf Talfahrt schickte. Klar, wer so zentral und günstig im hübschen historischen Ambiente wohnt, zieht vermutlich niemals wieder freiwillig aus. Und da sich die Chancen auf eine etwaige erfolgreiche Eigenbedarfskündigung, noch dazu wenn man dort gar nicht dauerhaft wohnen will, als eher unbestimmt ausnehmen, wird als maßgebliches Kriterium zur Wertermittlung die durch den Überschuss aus den Mieteinnahmen erzielbare Rendite herangezogen. Und die wäre selbst beim geschätzten Verkehrswert von 29.600 Euro noch relativ bescheiden.

Doch das war Johannes K. gar nicht unrecht. Glaubte er doch, gerade dadurch eine reelle Chance auf den Erwerb des begehrten Objekts zu haben. Er musste nur bereit sein, eine noch weitaus geringere Rendite in Kauf zu nehmen, dann würde er die mitbietenden Konkurrenten schon erfolgreich aus dem Feld schlagen können. Er rechnete nach und kam auf einen Preis von gut 61.000 Euro, den er bieten müsste, also das Doppelte des Verkehrswerts aus dem Gutachten. Dann läge die Rendite bei äußerst schwachen 2,3 Prozent. Wer würde denn schon noch mehr Geld bieten, um dann eine noch unattraktivere Rendite zu erzielen? Da müsste man ja bekloppt sein! Joannes K. durchdachte seine finanziellen Verhältnisse. Eine Kreditaufnahme kam natürlich nicht infrage, dann würde ihm aber seine Frau gehörig aufs Dach steigen, die sich ohnehin schon immerfort an seiner Sparsamkeit störte. Höchstens knapp 10.000 Euro hinter dem Rücken seiner Frau von seinem alten Studienfreund in Hamburg leihen und sie ihm dann schnellstmöglich wieder zurückzahlen – das wäre vielleicht noch möglich. Einen kleineren fünfstelligen Betrag hatte er seit seinem letzten Wohnungskauf vor einem Jahr schon wieder angespart. Den Rest würde er aus Aktienverkäufen aufbringen können, denn sein Wertpapierdepot hatte sich wieder einmal glänzend entwickelt und war reif für Gewinnmitnahmen.

Auf der ZVG-Seite standen unter den Angaben zu dieser Versteigerungssache die Kontaktdaten einer Immobilien-Gesellschaft, die nähere Auskünfte zur besagten Wohnung geben könnte. Dort fragte Johannes K. an und erhielt die Auskunft, dass in diesem Falle kein Vorab-Erwerb der Wohnung möglich sei und ebensowenig eine Besichtigung. Doch erhielt er, wie alle anderen Interessenten auch, eine Menge Fotos vom Inneren des Objekts, welche die Mieterin zur Verfügung gestellt hatte. Alles wirkte solide, wenn auch ziemlich unaufgeräumt. Letzteres stimmte Johannes K. nur noch hoffnungsvoller, denn im Gegensatz zu manch anderem, so sah er es, besaß er die Fantasie, sich die Wohnung auch im aufgeräumten Zustand vorstellen zu können. Mit Bleistift auf Papier kalkulierte Johannes K. immer wieder mit unterschiedlichen Bietpreisen und errechnete so die jeweils erzielbare Rendite. Doch, es stimmte schon: gut 61.000 Euro müsste er schon aufbringen. Längst hatte er sich die Bahnverbindung nach G. herausgesucht, einem noch kleineren Ort westlich von W., an dem die Zwangsversteigerung stattfinden sollte. Johannes K. wurde beim Gedanken an seine Fahrt dorthin ganz nostalgisch, denn seine Eltern hatten einst ausgerechnet in G. einen Garten besessen, in dem Johannes K. unzählige unbeschwerte Kindheitstage verbracht hatte. Er fieberte dem Versteigerungstermin regelrecht entgegen und hatte auch schon die geforderte Sicherheitsleistung von 10 Prozent des lächerlichen Verkehrswertes aufs Konto der Justizkasse überwiesen.

Doch dann, zehn Tage vor dem Termin, erreichte ihn die ernüchternde E-Mail vom ZVG-Portal: Der Versteigerungstermin wird aufgehoben. Ach, wie schade!, fand Johannes K. Sollte alles Hoffen und Bangen umsonst gewesen sein? Einen Tag später kam aber eine weitere E-Mail von der Immobilien-Gesellschaft. „Der Termin wurde aufgehoben…“ Ja, mein Gott, das wusste man doch schon. Aber dann folgte noch der Zusatz: „… aus organisatorischen Gründen. Eine neue Terminierung erfolgt in Kürze.“ Oh, es gab tatsächlich noch eine Chance! Johannes K. war außer sich vor Freude. Täglich besuchte er fortan die ZVG-Seite, um nachzusehen, ob dort schon etwas stand. Und tatsächlich: Nach einigen Wochen erschien dort der neue Versteigerungstermin Ende September. Wieder in G., aber diesmal nicht im Amtsgericht, sondern im großen Saal des Rathauses der Stadt G. Offenbar hatte es also schon so viele „Anmeldungen“ durch Überweisung der Sicherheitsleistung gegeben, dass absehbar war, dass der Platz im Gericht angesichts des großen Menschenandrangs nicht reichen würde. Also noch ein halbes Jahr warten, und es war mit vielen Bietkonkurrenten zu rechnen. Dennoch ließ sich Johannes K. nicht von seinem Optimismus abbringen. Wenn er mit seinen gut 61.000 kommen würde, wer sollte denn da schon noch mehr bieten wollen?!

Die Monate vergingen in quälender Langsamkeit. Im Juni senkte die EZB erstmals nach langer Zeit ihre Zinsen. Nun war also sehr wahrscheinlich der tiefste Punkt bei den Immobilienpreisen erreicht. Jetzt musste man kaufen! Doch Johannes K. konnte es nicht, weil er noch drei Monate bis zum Zwangsversteigerungstermin warten musste. Er war außer sich. Im Juli machte er mit seiner Frau einen Tagesausflug nach W. zu einer Außenbesichtigung des Objektes seiner Begierde. Er fotografierte dabei auch die Namensleiste am Klingelbrett und recherchierte, ob sich etwas über „seine“ künftige Mieterin finden ließe, was ihm womöglich einen wertvollen Informationsvorsprung gegenüber seinen Bietkonkurrenten verschaffen könnte. Doch er fand nichts.

Anfang August passierte es dann: Die Aktienkurse an den Börsen brachen weltweit ein. Da war irgendwas mit Carry-Trades in Japan passiert. Und nun standen seine Aktien längst nicht mehr auf dem Niveau, wo sich der Gedanke an Gewinnmitnahmen noch aufdrängen würde. Traurig musste sich Johannes K. eingestehen, dass sich die fest eingeplanten Aktienverkäufe für ihn wohl nicht mehr lohnen würden. Für diese hatte er den besten Zeitpunkt also offenbar leider schon verpasst. Aber hätte er wirklich seine Positionen schon früher verkaufen sollen, nur in der unbestimmten Hoffnung, vielleicht bei der Zwangsversteigerung zum Zuge zu kommen? Und was, wenn es dann nicht klappte? Hätte, hätte, Fahrradkette… Es war zum Verzweifeln! Doch wundersamerweise ging es an der Börse schon nach kurzer Zeit wieder steil nach oben. Keine drei Wochen nach dem Crash standen die Kurse schon wieder höher als zuvor. Und Johannes K. frohlockte. „Alles ist möglich, wenn du fest daran glaubst.“ Das hatte er mal in seinem Glückskeks aus dem China-Restaurant gelesen.

Im September senkte die EZB ein weiteres Mal die Zinsen. Johannes K. musste ans berühmte Rilke-Gedicht denken, das er für sich abgewandelt hatte in: Wer jetzt kein Haus kauft, kauft sich keines mehr. Hatte er überhaupt noch eine Chance? Doch es gab ja im September auch noch die Landtagswahlen in drei Ost-Bundesländern mit wahrlich schockierend hohen Stimmanteilen für AfD und Sahra Wagenknecht. Welcher Investor oder Interessent aus Westdeutschland – und nahezu alle Investoren oder Interessenten außer Johannes K., dem gebürtigen Ossi, kamen schließlich aus Westdeutschland – wollte denn eine Immobilie in Landstrichen mit hohem AfD- und BSW-Stimmenanteil erwerben? So entsetzt Johannes K. angesichts der Wahlergebnisse auch war, für „sein“ nostalgisches Immobilienprojekt“, wie er es nannte, schöpfte er nun wieder neue Hoffnung. Noch dazu hatte ihm ein Kollege aus Frankfurt am Main, der mit dem Kauf eines Häuschens in Thüringen liebäugelte, verraten, dass er direkt nach den Landtagswahlen ans Werk gehen wolle. Tja, dachte Johannes K., aber was, wenn nun alle denselben Gedanken haben…?

Anderthalb Wochen vor dem Termin entdeckte Johannes K. auf Ebay Kleinanzeigen die Offerte einer kleinen Eigentumswohnung in W., allerdings ohne Preisangabe und nur mit dem Hinweis VB. Als er die Bilder und den Grundriss betrachtete, staunte er nicht schlecht. Die sah doch aus wie „seine“ künftige Wohnung! Nur lag sie nicht im 2.OG, sondern im 1.OG. Es war also die Wohnung direkt darunter. Sie war jedoch bezugsfrei, hübsch eingerichtet mit IKEA-Möbeln und gut aufgeräumt. Im Begleittext stand noch der Hinweis, dass sich mit ihr eine Jahresmiete von 5.200 Euro netto erzielen ließe. Das war weit mehr, als der Mietspiegel der Stadt W. hergab. Und Johannes K. war sofort klar, dass hier eine möblierte und befristete Vermietung gemeint war, so wie er es ja auch mit mehreren seiner Wohnungen in Berlin praktizierte. Natürlich, die Fachhochschule war ja nicht weit. Daran hatte er natürlich auch längst gedacht für den Fall, dass die Wohnung in W. irgendwann mal frei würde. Er betrachtete noch einmal die Namen auf dem Klingelbrett auf seinem Foto. Demnach war der letzte Bewohner der möbliert und befristet vermieteten Wohnung eine Person mit iranischem Namen, die sich bei einer Google-Recherche als Dozent an der Fachhochchule erwies. Johannes K. entschloss sich nun, eine Art Testballon aufsteigen zu lassen und der Anbieterin dieser Wohnung die von ihm zum Kauf der darüberliegenden Wohnung eingeplanten 61.000 Euro zu bieten. Am Tag darauf kam die Rückmeldung, dass sein Gebot und die Preisvorstellung der Anbieterin zu weit auseinander lägen, um in Verhandlungen über den Kaufpreis eintreten zu können. Na gut, das war nun keine Überraschung, denn schließlich war diese Wohnung nicht vermietet. Drei Tage später war die Anzeige bereits wieder verschwunden.

Endlich war der große Tag gekommen. Vollkommen gegen seine Gewohnheit war Johannes K. schon um 3.45 Uhr aufgestanden, um mit dem ersten Zug frühmorgens in Richtung G. zu fahren. Um 9.30 Uhr sollte die Zwangsversteigerung beginnen. Schon um 9 Uhr hatte sich eine Gruppe von knapp 50 Personen vor dem Rathaus der kleinen Stadt eingefunden. Und es wurden dann immer mehr. Der große Saal des Rathauses war vollständig gefüllt. Die meisten waren Ältere, aber es waren alle Altersgruppen vertreten, auch viel internationales Publikum, asiatisch und nahöstlich aussehende Personen. Johannes K. zählte mehr als 150 Interessenten. Ob er da wohl eine Chance haben würde? Und dann kam es: Schon nach wenigen Sätzen verkündete die Justizangestellte, dass der Mietvertrag der Wohnung mittlerweile von der Mieterin zum Ende des laufenden Monats gekündigt worden sei. Die Wohnung werde also bezugsfrei an den Ersteigerer übergeben.

Das war natürlich eine ganz neue Situation, denn durch diesen Umstand dürfte der Wert der Wohnung zweifellos um ein Beträchtliches nach oben geschossen sein. Schließlich konnte man sie ja nun ohne weiteres selbst nutzen oder auch lukrativ möbliert und befristet vermieten. Es war somit klar, dass Johannes K. an diesem Tag leer ausgehen würde, denn mehr als die eingeplanten 61.000 Euro konnte und wollte er nicht aufbringen. Es dauerte dann auch nicht lange, da hatten schon die ersten Interessenten mehr als 61.000 Euro geboten. Danach ging es nun aber etwas langsamer nach oben als zuvor. Ab 80.000 Euro wurden die Gebotsschritte immer kleiner, und es waren nur noch zwei Bieter übriggeblieben, die es unter sich ausmachten: ein älteres deutsches Ehepaar und ein älterer Herr mit türkischem Namen. Alle anderen hatten schon die Segel gestrichen, ein vietnamesisches Paar ebenso wie ein jüngerer deutscher Mann und mehrere Anzugträger, die jeweils für Immobiliengesellschaften agierten. Am Ende erhielt das ältere deutsche Ehepaar für 82.500 Euro den Zuschlag.

Johannes K. erschien die Sache mit der überraschenden Kündigung der Mieterin schon recht seltsam, doch es würde sicherlich niemand irgendwem etwas beweisen können. So trat er also enttäuscht und mit leeren Händen die Heimreise an und setzte schon bald darauf seine Recherchen in den Immobilienportalen fort. Vielleicht würde er ja noch irgendwo ein Ersatzobjekt für sich finden, wenn auch nicht gerade in der offenbar so begehrten Stadt W.

Veröffentlicht von on Okt 14th, 2024 und gespeichert unter DRUM HERUM, GERICHTSGESCHICHTEN. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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