Steffen Mau liefert mit „Ungleich vereint“ die präziseste Analyse des „Problemfelds Ost“
Thomas Claer
Da gibt es eine Gegend, die zu den wohlhabendsten Regionen Europas zählt, doch ihre Bewohner sind voller Groll, denn ihren weiter westlich lebenden Landsleuten geht es noch ein Stück weit besser als ihnen, und das nicht immer einfache Zusammenwachsen mit jenen hat bei ihnen schwere Traumata zurückgelassen, die sie offenbar auch schon an die nächste Generation weitergegeben haben. Mehrere vieldiskutierte Bücher über die schwierige deutsche Einheit und den zumindest in seiner Selbstwahrnehmung noch immer problembeladenen Osten sind in den letzten Jahren erschienen. Selbstverständlich wurden sie alle – ohne Ausnahme! – von aus Ostdeutschland stammenden Autorinnen und Autoren verfasst. Denn warum sollten Westdeutsche sich mit Problemfeldern auseinandersetzen, die in ihren Augen überhaupt nicht existieren, die sie zumindest nicht als solche zu erkennen vermögen?
Die besagten Bücher wenden sich entweder gegen die Arroganz des Westens gegenüber dem Osten (Dirk Oschmann) oder gegen die Ignoranz des Ostens gegenüber der Demokratie (Ilko Sascha Kowalczuk), oder sie erzählen die Geschichte der untergegangenen DDR noch einmal ganz anders und stark beschönigend (Katja Hoyer). Und dann ist da auch noch der aus Rostock stammende Berliner Soziologie-Professor Steffen Mau (geb. 1968), der in seinem schmalen Bändchen namens „Ungleich vereint“ unaufgeregt und ausgewogen, pointiert, aber nie polemisch all das analysiert und auf den Punkt bringt, was sich in gut drei Jahrzehnten (plus DDR-Vorgeschichte) in den noch immer so genannten Neuen Bundesländern so zusammengebraut hat.
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses kleine Büchlein sollte unbedingt jeder gelesen haben, der ein Interesse an der Ost-Thematik mitbringt, der im Osten wohnt oder mit dem Osten und seinen Bewohnern zu tun hat. Steffen Maus zentrale These lautet: Der Osten ist in vieler Hinsicht anders als der Westen – und er wird es auch weiterhin bleiben. Damit ist zugleich gesagt, dass diese kleine Studie vermutlich noch für Jahrzehnte relevant sein wird! Die Anschaffung und Lektüre dieses Buches dürfte sich also mit großer Sicherheit voll armortisieren…
Das Buch richtet sich sowohl an Ostdeutsche, die sich über ihre Besonderheiten und ihren einheitsbedingten psychischen Knax klarwerden wollen, als auch an Westdeutsche, die wissen wollen, warum ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern aus ihrer Sicht so seltsam sind. („Ich möchte das Thema Ostdeutschland aus der dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen, in Ost wie in West.“, S.9) Es geht los mit dem unerwarteten Befund der Verfestigung bestehender Ost-West-Unterschiede, die man lange Zeit als nur vorübergehend angesehen hatte. Konkret wird sodann die „ausgebremste Demokratisierung“ des Ostens unter die Lupe genommen. Wie konnte es passieren, dass die demokratischen Institutionen und Parteien auch nach über 30 Jahren im Osten noch alles andere als fest verwurzelt sind? Sehr aufschlussreich ist vor allem das Kapitel „Kein 1968“. Darin wird einerseits deutlich, wie tiefgreifend Westdeutschland von der anti-autoritären Generationenrevolte „von unten“ seit den späten Sechzigern geprägt wurde und wie stark seine heutige hohe demokratische Kultur damit zusammenhängt. Genau dies fehlt aber andererseits dem Osten, denn es mangelt ihm an jeglichen Voraussetzungen für vergleichbare Generationen-Protestbewegungen. („Die Älteren saßen nicht saturiert in ihren Wohn- und Amtsstuben, sondern standen oft genug in der Schlange des Arbeitsamts.“, S.64)
Die zweite Hälfte des Buches widmet sich dann ganz überwiegend der sich stattdessen vor unseren Augen im Osten abspielenden autoritären Revolte von rechtsaußen. Sehr treffend bemüht Steffen Mau hier den aus dem Versicherungswesen stammenden Begriff des „Allmählichkeitsschadens“. Mit der Zeit, angefangen von den „Baseballschlägerjahren“ in den Neunzigern und ihren rechtsradikalen Vorläufern in der späten DDR über den Einzug von Neonazi-Kadern aus dem Westen in den Osten bis hin zum heutigen verstärkten Aufgreifen von Ost-Befindlichkeiten durch die AfD, hat sich über die Jahre eine trübe Melange aus Ost-Trotz, Ressentiment und Hetze so ausgebreitet, dass sie nun die Grundpfeiler von Demokratie und Rechtsstaatslichkeit anzugreifen droht. Immerhin, die gute Nachricht ist, dass die AfD im Westen (und damit auch auf Bundesebene) ihr Stimmenpotential mit 20 Prozent plus x sehr wahrscheinlich schon weitgehend ausgereizt hat. Im Osten allerdings könnte sie angesichts der dort vor allem im kleinstädtischen und ländlichen Raum stark verbreiteten antidemokratischen Misstrauenskultur sogar noch weiter wachsen. (Und gerade jene Orte, die infolge starken Einwohnerrückgangs besonders auf Zuwanderung angewiesen wären, drohen durch ihre fremdenfeindliche Abschottung in eine fatale Abwärtsspirale zu geraten.) Um so wichtiger ist es insofern, dass die vielzitierte Brandmauer nach rechtsaußen unbedingt weiter halten muss. Aber das ist leichter gesagt als umgesetzt, wenn wir es vielerorts im Osten bereits mit einer massiv „angebräunten Zivilgesellschaft“ zu tun haben.
Na gut, der Rechtspopulismus und -extremismus ist derzeit leider weltweit enorm auf dem Vormarsch, weshalb womöglich gar nicht das dafür stark anfällige Ostdeutschland, sondern vielmehr das dafür kaum anfällige Westdeutschland die Besonderheit darstellt. Doch habe, so Mau, der Rechtsruck im Osten andere, nämlich eigene Ursachen. Dazu zählt z.B. auch der wahrhaft schockierende Umstand, dass unsere (allesamt im Westen erscheinenden) gehobenen Qualitätszeitungen von FAZ und Süddeutscher Zeitung bis zu SPIEGEL und ZEIT im Osten schlichtweg kaum gelesen werden. Nur zwei bis fünf Prozent ihrer Abonnenten leben in den Neuen Bundesländern! Stattdessen liest man im Osten offenbar lieber das Desinformations-Organ Berliner Zeitung oder informiert sich in den verhetzten Sozialen Netzwerken. Da muss man sich natürlich nicht wundern…
Als möglichen Ausweg aus der Misere empfiehlt Mau abschließend zur Ergänzung zum als elitär und abgehobenen wahrgenommenen Parlamentsbetrieb den forcierten Einsatz von Bürgerräten. Vielleicht würde es ja helfen.
Steffen Mau
Ungleich vereint
Suhrkamp Verlag, 2024
168 Seiten; 18,00 Euro
ISBN: 978-3-518-02989-3