Dritte Demo in sechs Jahren
Warum Justament-Autor Thomas Claer neuerdings so oft demonstrieren geht
Die in Art. 8 GG ausdrücklich geschützte Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut in einem Rechtsstaat. Menschen, die regelmäßig und oft auf die Straße gehen, um aller Welt zu zeigen, was sie umtreibt und bewegt, tun daher zunächst einmal etwas Gutes, Richtiges und Sinnvolles. Dennoch halte ich mich von Demonstrationen normalerweise eher fern, weil sich deren Effekt doch rasch abnutzt, wenn sie ständig und immer wieder aufs Neue stattfinden. Außerdem fehlt mir auch einfach die Geduld, um womöglich mehrere Stunden im Schneckentempo durch die Gegend zu trippeln oder mir die Beine in den Bauch zu stehen. Und noch dazu bin ich extrem kälteempfindlich; also im Winter demonstrieren, das geht für mich eigentlich gar nicht.
Dass ich trotzdem vor einer Woche – in bitterster Winterskälte! – auf meiner bereits dritten Demo in gerade einmal sechs Jahren gewesen bin, ist allein den gegenwärtigen politischen Umständen geschuldet. Zuvor hatte ich zweieinhalb Jahrzehnte lang überhaupt nicht mehr demonstriert, letztmalig als Student Mitte der Neunziger gegen rechtsextremistische Anschläge. Doch dann kam Fridays for Future, und ich marschierte mit. Ich fand es großartig, dass so viele – und darunter auch so viele junge – Leute endlich einmal aufwachten und sich dem Klimawandel entgegenstellten. Allerdings ist es bezeichnend für unsere mittlerweile extrem schnellebige Zeit, dass diese damals so hoffnungsvoll erscheinende Welle schon längst wieder abgeebbt ist. Kaum jemand interessiert sich heute noch für Klimaschutz, egal ob Gebirgsdörfer unter Wasser oder Städte in Flammen stehen. Denn schließlich haben wir inzwischen ja auch noch mehr als genug andere existenzielle Probleme, allen voran den durchgeknallten Kreml-Despoten mit seiner sogenannten Spezialoperation, gegen die ich vor drei Jahren ebenfalls auf die Straße gegangen bin.
Und nun hat auch noch in Übersee der selbsternannte „Diktator für einen Tag“ zum zweiten Mal sein Amt angetreten und schon in den ersten drei Wochen mit seinen irren Ideen und Aktionen die Welt in Furcht und Schrecken versetzt. Darüber hinaus haben wir hierzulande in zwei Wochen vorgezogene Bundestagswahlen, und der designierte künftige Kanzler von der CDU hielt es für eine gute Idee, seine Fraktion im Bundestag sehenden Auges mit der weitgehend rechtsextremistischen AfD für einen Antrag und ein Gesetzesvorhaben abstimmen zu lassen (was er vor wenigen Wochen noch kategorisch ausgeschlossen hatte). Klar, dass ihm jetzt viele Wähler seine Beteuerungen nicht mehr abnehmen, nach der Wahl keinesfalls mit der AfD kooperieren zu wollen. Doch haben die Massendemonstrationen in vielen Orten unseres Landes (hier in Berlin mit mehr als 160.000 Teilnehmern, in München nun sogar mit über 250.000) gegen diese Vorgehensweise offenbar schon etwas bewirkt: So eindringlich, wiederholt und entschieden, wie sich der Kanzlerkandidat der Union auf dem jüngsten CDU-Parteitag und ebenso gestern im Fernseh-Duell gegen jede Form der Zusammenarbeit mit der Rechtsaußenpartei ausgesprochen hat (und auch ausdrücklich gegen eine von dieser tolerierte Minderheitsregierung), wird er davon nun wohl nicht mehr abrücken können, ohne seine Glaubwürdigkeit vollends zu beschädigen. Insofern haben sich Massendemonstrationen als probates Mittel im politischen Meinungskampf, wenn es ernst wird, ein weiteres Mal bewährt. Noch funktioniert unsere Denokratie also. Möge es auch weiter so bleiben!