Neues von Alexander Thiele

Einer der vielseitigsten Öffentlichrechtler lehrt an der Berliner BSP

Matthias Wiemers

Alexander Thiele zählt zu den vielseitigsten Vertretern des Öffentlichen Rechts in Deutschland und lehrt seit Jahren an der BSP Berlin, die sich anschickt, nach der Bucerius Law School (Hamburg) und der European Business School (Oestrich-Winkel) die dritte etablierte private Jura-Universität in Deutschland zu werden. Nachfolgend wollen wir kurz auf seine letzten drei Bücher blicken.
2023 schon gelang Thiele ein besonderer Coup, weil er es mit einer kleinen Buchveröffentlichung in den Reclam Verlag schaffte – in die bekannte kleine gelbe Reihe, die wir alle aus dem Deutschunterricht kennen (und von denen es in anderen Farben auch noch die entsprechenden Hilfsmittel gibt, wenn man den Text nicht selbständig zu interpretieren vermag). Thiele hat allerdings keinen Roman oder eine Novelle geschrieben sondern ein handliches Format des Grundgesetztextes gebracht, wo er zwischen den einzelnen Abschnitten des Normtextes jeweils diesen in einer „nicht umfassend und allzu formalistisch(en)“ Form zu erklären sucht. Dies ist ihm weitestgehend gelungen. Es dürfte keinen weiteren Text dieser Art geben, jede Textausgabe beschränkt sich bisher darauf, höchstens in Form einer mehr oder weniger umfangreichen Einführung vorab das Grundgesetz zu erklären (bei Beck etwa früher durch Günter Dürig, seither durch Udo Di Fabio). Dem Ganzen ist ein Geleitwort der Schriftstellerin Jagoda Marinic vorangestellt und sind vertiefende Lektürehinweise nachgestellt. Weil das Bändchen eben die bekannte Reclam-Form aufweist, passt es tatsächlich in jede (Jacken-)Tasche und kostet auch nur 8 Euro.
Fazit: Empfehlenswert für jeden an den Grundlagen des Gemeinwesens interessierten Bürger.

Im Folgejahr 2024 hat Thiele dann bei Campus eine kleine Schrift zur Zukunft der EU veröffentlicht. Von solchen Werken bzw. oftmals publizierten programmatischen Reden existiert eine gewisse Anzahl auf dem Markt bzw. ist in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden, aber kaum von so ausgewiesenen Kennern wie Alexander Thiele.
Der Obertitel „Defekte Visionen“ ist praktisch Programm des ersten Buchkapitels, wo Thiele nämlich die Stärken und (vor allem) Schwächen grundsätzlicher Reden bzw. Schriften von folgenden Akteuren der europäischen Integration aufzeigt: Joschka Fischer, Emmanuel Macron, Vincent-Emmanuel Herr und Martin Speer, den Präsidenten der EU-Organe („Konferenz zur Zukunft Europas“) sowie von Olaf Scholz.
Nachdem Thiele die Europavisionen der letzten zwei Jahrzehnte analysiert und kritisiert hat, stellt er die erkannte Reformbedürftigkeit der EU als deren Gemeinsamkeit fest und entwirft aufgrund dieser Erkenntnis im zweiten Kapitel ein akzeptables Herrschaftsmodell. Hierbei ist Ausgangspunkt seiner Kritik die Rede von der „ever closer Union“, also die im System der Verträge schon angelegte Instabilität. Diese ständige Infragestellung führe zu einer „latenten institutionell-organisatorischen Destabilisierung“ (S. 62). Thiele plädiert für eine prinzipielle Anerkennung der politischen Herrschaftsstruktur der EU im Sinne einer prinzipiellen Nichthinterfragung und damit gegen die ständige Fortführung der Finalitätsfrage. Dies bedeute nicht, dass im Anschluss keine institutionellen Veränderungen möglich seien (vgl. S. 64 f.)
Er formuliert sodann drei bereits universell geteilte „Mindesterwartungen an eine demokratisch legitimierte Herrschaftsorganisation wie der Europäischen Union“:
• ausreichende Teilhabe an der Herrschaft,
• ausreichende Begrenzung der Herrschaft und
• ausreichende Leistungsfähigkeit der Herrschaft (S. 67).
Diese drei Elemente werden sodann im Einzelnen erläutert, wobei vor allem beim ersten Kriterium mehrere wichtige Feststellungen (auf S. 72) getroffen werden, die sich insgesamt gegen den nicht nur auf bundesverfassungsrechtlicher, sondern auch auf EU-Ebene erkennbaren Hang zur Konstitutionalisierung der Rechtsordnung richten.
Das dritte Kapitel dient dazu, wiederum vor den im zweiten Kapitel herausgearbeiteten Kriterien die Legitimität der Europäischen Union zu untersuchen. Eine der hier richtigerweise getroffenen Feststellungen lautet dabei die „Überkonstitutionalisierung des Binnenmarktes“ (S. 93), der freilich gerade aktuell wieder neu diskutiert wird. Je mehr gestufte Verantwortlichkeiten und Mitbestimmungsmöglichkeiten durch Selbstverwaltung verloren gehen, desto weniger wird Herrschaft als legitim empfunden.
Thiele jedenfalls würde gerne vieles aus dem Bereich der EU-Wirtschaftsverfassung auf die Ebene des Sekundärrechts herabstufen (S. 93 ff.) und möchte im Ergebnis die EU repolitisieren, nachdem sie jahrzehntelang entpolitisiert worden sei. Damit sieht Thiele auch die Möglichkeit der Weiterentwicklung einer europäischen Öffentlichkeit (S. 96).
Im Abschnitt über die „ausreichende Begrenzung der Unionsgewalt“ akzeptiert Thiele zwar unverständlicherweise den 750 Mrd. Euro schweren „Coronahilfefonds“, der sicherlich nicht zu rechtfertigen ist (auch wenn das BVerfG dies getan hat), plädiert aber dennoch dafür, „Kompetenzzuweisungen innerhalb der Europäischen Union unter Legitimitätsgesichtspunkten neu zu justieren“ (S. 103), wozu er auch – völlig zu recht – die Abschaffung der so genannten Unterstützungskompetenzen rechnet (S. 104).
Aus dem Abschnitt über die „ausreichende Leistungsfähigkeit der Unionsgewalt“ sei nur die ebenfalls zutreffende Feststellung zitiert, „das immer wieder bemühte Friedensnarrativ“ reiche „der heutigen Generation richtigerweise (…) nicht mehr aus“ (S. 107).
Die Überschrift des Ausblicks „Gutes Leben in staatstheoretischer Uneindeutigkeit“ sagt schon vieles über seinen Inhalt aus. Auch hier kommt die richtige Ansicht Thieles, die mit einem Zitat des Juristen Max Erdmann zum Ausdruck bringt, zum Ausdruck: „Jedenfalls war der klassische europäische Ansatz, diese hochpolitischen Fragen konsequent zu Sachfragen herabzustufen, bisher nicht sonderlich erfolgreich.“
Halten wir fest, dass Thiele, der konservativer oder gar reaktionärer Tendenzen völlig unverdächtig ist, hier wichtige kritische Anmerkungen zum Thema der Finalität Europas gemacht hat und mithilft bei der so wichtigen Repolitisierung des europäischen Projekts. Damit nicht diejenigen, die etwas Kritisches sagen, auch künftig gleich in die rechte Ecke gestellt werden. Die Entwicklung der AfD in Deutschland belegt, wie verfehlt die bisherigen Debatten oft waren.

Ebenfalls im Jahre 2024 hat Alexander Thiele ein Werk seines verstorbenen akademischen Lehrers Werner Heun neu aufgelegt, das dieser 2012 als Übersetzung eines an ein internationales Publikum gerichteten Werks veröffentlicht hatte und das er als „systematische Darstellung der durch das Grundgesetz konstituierten politischen Ordnung“ verstand (Vorwort Heun, erste Auflage).
Es gab gelegentlich solche Darstellungen von Staatsrechtslehrern, die sich nicht als Lehrbuch verstanden (etwa von Walter Schmitt-Glaeser und Rupert Scholz), und diese Literaturtyp bietet gerade Leserinnen und Lesern, die nicht mehr auf irgendein Examen lernen, noch einmal die Möglichkeit des Zugangs zum vertieften Verständnis. Der Band ist in neun Kapitel eingeteilt, die hier nur kurz skizziert werden sollen:
Die Einführung behandelt „einige Charakteristika des deutschen Verfassungsrechts und deutscher Verfassungsrechtswissenschaft“ und zeigt sprichwörtlich schon, wes Geistes Kind die Autoren sind. Sie zählen zu denen, die den „Staat als Argument“ (Christoph Möllers) ablehnen und sich eher auf die Verfassung stützen
Im zweiten Kapitel geht es um „Traditionen und Konzepte des Konstitutionalismus in Deutschland“, mit hin um etwas Verfassungsgeschichte.
Es geht weiter mit einer Darstellung der fundamentalen Staatsstrukturprinzipien und der demokratischen Legitimität (Kap. 3). Auch in diesem Werk finden wir hier wieder eine leichte Kritik an der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und der Ausdehnung der Anwendung der Menschenwürdegarantie, die zu unterstützen ist (S. 38).
Kapitel vier beschäftigt sich speziell mit „Bundesstaatlichkeit“. Hier ist die zutreffende Feststellung zu betonen, die außenpolitische Betätigung der Ministerpräsidenten drohe zu einem Gewohnheitsrecht zu erstarken und auch die Errichtung von Landesvertretungen der Länder in Brüssel sei problematisch (S. 101 f.).
Das fünfte Kapitel ist den Themen „Gewaltenteilung und parlamentarisches Regierungssystem“ gewidmet.
Der hier enthaltene Hinweis auf die inzwischen erfolgte Abschaffung der Grundmandatsklausel im Bundestagswahlrecht ist allerdings nicht aktuell (S. 152), da das BVerfG die Abschaffung dieser Regelung Ende Juli 2024 verworfen hat.
Insgesamt konstatiert Thiele, die Bundesrepublik habe ich zu einer „nachgerade klassischen Konkordanzdemokratie entwickelt, bei der es der parlamentarischen Mehrheit anders als im Westminster-Modell schwer fällt, einfach durchzuregieren“ (S. 157).
Die völlige Überforderung des Deutschen Bundestages durch die schiere Menge der Europäischen Union, die Thiele konstatiert (S. 177), trifft zu.
„Regierung und Verwaltung“ bilden das Themenspektrum des sechsten Kapitels, worin der Abschnitt über „Die Transformation des Verwaltungsrechts“ (S. 208 ff.) besonders lesenswert ist, der von Thiele jetzt um einen passenden Abschnitt über „Privatisierung, Outsourcing, Regulierung und Deregulierung“ (S. 217 ff.) ergänzt wurde.
Im siebten Kapitel werden „Die verfassungsrechtliche Rolle der Gerichtsbarkeit und das Bundesverfassungsgericht“ behandelt, worin besonders der kleine Abschnitt über „Rechtliche Wirkungen der Entscheidungen“ lesenswert erscheint (S. 253 ff.).
Erst im vorletzten Kapitel geht es um „Das System der Grundrechte“. Für manche Staatsrechtler fehlt es an einem solchen geschlossenen System, Heun und Thiele haben keine Angst davor. Interessant ist der Hinweis, dass das BVerfG „die Formel und Wendung von der Wertordnung“ aufgegeben habe und sich nunmehr auf die Grundrechte als objektive Prinzipien beziehe (S. 286 f.). Dies war dem Rezensenten bisher nicht so aufgefallen. Den „Epilog“ (9. Kapitel) seines Lehrers Heun hat Thiele im Prinzip verlängernd ergänzt. Während bereits Heun vom Niedergang des Nationalbewusstseins schrieb, äußert sich Thiele explizit zum Konzept des Verfassungspatriotismus (S. 330 f.). Diese „reizende Idee“ überanstrenge „indes vermutlich die Verfassung, die in der Regel für die nationale Identität des Volkes gerade nicht dieselbe Bedeutung wie andere Symbole erlangen wird.“ Am Schluss erweist sich damit Thiele als ein Jurist, der gerade nicht die Verfassung eindeutig über den Staat stellt Er betont vielmehr abschließend seine kritische Sicht der Konstitutionalisierung der Rechtsordnung (S. 331).

Alle Kapitel schließen mit weiterführenden Literaturhinweisen, die nicht nur juristische Sichtweisen, sondern auch solche benachbarter Disziplinen präsentieren.
Der Band ist uneingeschränkt zu empfehlen – auch wenn man jenen Großteil der Erweiterung des Umfangs nicht so mag, den man auf das – hier allerdings auf die ausgeschriebenen männlichen und weiblichen Form beschränkte – Gendern schieben kann.
Das Register ist umfangreich, auf ein Entscheidungsregister wurde in der Neuauflage verzichtet.

Diese vielleicht ungewöhnliche Zusammenstellung dreier Werke eines noch jungen Lehrers des öffentlichen Rechts soll darauf hinweisen, dass es noch innovatives Potential in der Rechtswissenschaft gibt, das freilich nicht immer auf den klassischen Pfaden eines Ordinariats an einer Massenuniversität und auch nicht auf einer immer weitergehenden Konstitutionalisierung unserer Rechtsordnung auf nationaler und europäischer Ebene unterwegs sein muss. Denn diese haben sich als die sprichwörtlichen „Holzwege“ erwiesen.
Studieninteressierte sollten sich insbesondere auch die BSP in Berlin anschauen!

Alexander Thiele
Das Grundgesetz. Verständlich erklärt,
Reclam Verlag, 2023
295 Seiten; 8,00 EUR
ISBN: 978-3-15-014415-2

Werner Heun / Alexander Thiele
Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland
Mohr Siebeck Verlag, 2. Auflage 2024
338 Seiten; 39,00 EUR
ISBN: 978-3-16-163494-9

Alexander Thiele
Defekte Visionen. Eine Intervention zur Zukunft der Europäischen Union
Campus Verlag, 2024
155 Seiten; 22,00 EUR
ISBN 9783593518817

Veröffentlicht von on Mai 12th, 2025 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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