Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wie haben die Konservativen, als sie noch in der Opposition waren, auf der angeblichen Cancel Culture der Ampel-Koalition und insbesondere der Grünen herumgehackt. Dass es in Kantinen einmal in der Woche (!) nur vegatarische Kost statt Fleischgerichten geben sollte (was dann tatsächlich nie durchgesetzt werden konnte), war für sie ein Skandal, ebenso die Idee eines Verbots von Einwegverpackungen in Imbissläden (letztlich von der FDP verhindert). Auch das neue Heizungsgesetz, wonach klimaschädliche Heizungen mit fossilen Brennstoffen perspektivisch nicht mehr erlaubt sein sollen, war ihnen ein Dorn im Auge. Der Staat, so hieß es, dürfe seine Bürger nicht bevormunden, und die Grünen seien nun einmal eine unverbesserliche Verbotspartei.
Doch nun das: Kaum an die Macht gekommen, fällt der neuen Bundestagspräsidentin von der CDU nichts Besseres ein, als Regenbogenflaggen im Parlament sowie den Abgeordneten das Tragen von Kleidungsstücken mit politischen Parolen zu verbieten. Der Bundestag, so unser neuer Kanzler, sei ja schließlich kein Zirkuszelt. Und der neue Kulturstaatsminister, der einst die neurechte Zeitschrift Cicero gegründet hat, empfiehlt ein generelles Verbot von Gendersprache in öffentlichen Institutionen.
Wenn wir in der gegenwärtigen Weltlage eines nun wirklich nicht brauchen, dann sind es solcherart Kultukämpfe! Was soll der Quatsch? Gendersprache mag einem mitunter auf die Nerven gehen, aber solange sie nicht allgemein verordnet wird, tut sie keinem weh und richtet keinen Schaden an. (Im Unterschied übrigens zu Verpackungsmüll, Fleischbergen auf unseren Tellern und fossilen Heizungen.) Wer meint, er müsse gendern, der soll es doch bitte tun dürfen. Und warum sollte man im Bundestag eigentlich nicht Flagge zeigen dürfen, zumal wenn es um ausgewiesene Symbole einer Toleranzkultur geht? Wenn es der Bundestagspräsidentin so um die politische Neutralität von staatlichen Institutionen geht, dann sollte sie doch wenigstens nicht öffentlich eine linksalternative Tageszeitung (die ihr früher mal berechtigterweise wegen fehlender Distanz zur Großindustrei im Ministerinnenamt ans Bein gepinkelt hat ) mit einer rechtspopulistischen Hetzplattform auf eine Stufe stellen.
Kurz gesagt, unseren neuen Regierungsvertretern würde etwas mehr Großzügigkeit und weniger engstirniger Klientilismus gut zu Gesicht stehen. Und wer glaubt, den Hetzern am rechten Rand dadurch das Wasser abzugraben, dass er deren Positionen übernimmt, statt ihnen entschlossen entgegenzutreten, macht sie so nur immer mehr salonfähig.
Dein Johannes