Von Goslar bis St. Tropez: „Unterwegs mit Kurt Tucholsky“ durch eine vergangene Welt
Jochen Barte
Wer nicht weiß, dass Kurt Tucholsky (1890-1935) promovierter Jurist war, wird es durch die Lektüre des im S. Fischer-Verlag erschienen Bändchens „Unterwegs mit Kurt Tucholsky“ explizit auch nicht erfahren. Dort sind Reiseberichte der Jahre 1922 bis 1931 versammelt, die Tucholsky als Journalist für die politische Zeitschrift Die Weltbühne verfasste. Der Nachrang des Persönlichen kann mithin kaum überraschen, denn das Sujet lässt, so möchte man meinen, hierfür wenig Raum. Aber so einfach liegen die Dinge nicht – schon gar nicht bei Tucholsky. Der private Tucholsky ist bei seinen Reisen – vorwiegend durch Deutschland und Frankreich – allenfalls ansatzweise, höchstens nebenbei zu greifen. Tucholsky weiß, dass derjenige, der zuviel über sich spricht, leicht in eitler, belangloser Geschwätzigkeit endet. Anderseits stellt sich natürlich die Frage, wer heute noch Reiseberichte aus längst vergangen Tagen über Orte wie St. Tropez lesen will, deren Charme verblasst ist und deren Individualität im Massentourismus versunken ist. Der Grund, der das Buch gleichwohl lesenswert macht, ist der elegante, essayistisch-literarische Stil in dem Tucholsky seine Eindrücke niedergeschrieben hat, in Verbindung mit der Tatsache, dass der Verfasser den politischen Publizisten und satirischen Kommentator, anders als die Privatperson, nicht unterdrücken kann und will. Tucholsky gelingt so das Kunststück, das Ortsgebundene, Atmosphärische mit dem Zeittypischen und zugleich Politischen zu verbinden. Fiktionales und Reales durchdringen einander und erzeugen so wieder Realität: Tucholskys Realität. Wer als Leser geneigt ist, kann sich vom Autor an der Hand nehmen und durch eine vergangene Welt führen lassen. Er kann, wie Tucholsky, im Goslar des Jahres 1924 bereits den Pesthauch des Nationalsozialismus spüren, der sich wie eine giftige Wolke über die Stadt gelegt hat. Oder er kann an der französischen Riviera deutschen Kleinbürgern, reichen Dandys, frühreifen höheren Töchtern und diskreten Großindustriellen dabei zusehen, wie sich „klassenbewusste“ Freizeitgestaltung in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gerierte. Egal wohin Tucholsky den Leser auch führt, entstehen vor dem geistigen Auge Impressionen und Realitätspartikel, die sich nicht selten zu einer Ganzheit zusammenfügen, die verweilen lässt und zur Reflexion einlädt. Und vielleicht auch – und das wäre sicher ganz im Sinne des Verfassers – zum Reisen.
Axel Ruckaberle (Hrsg.)
Unterwegs mit Kurt Tucholsky
S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2010
8,00 EUR, broschiert
ISBN-10: 359690272X