Aus dem Tagebuch eines Jura-Studenten
Liebes Tagebuch,
letztens hat mich ein Freund gefragt, ob es möglich ist, während der Examensvorbereitung eine Beziehung zu beginnen oder ob das zu sehr auf die Note schlüge. Nach einem halben Jahr in der Examensvorbereitung war mein erster Gedanke: „In welchem Gesetz könnte die Liebe wohl geregelt sein?“ Auch gab ich in den juristischen Datenbanken den Begriff „Liebe“ ein. Zur Ehe findet sich dort von Hegel folgendes: „Die Ehe ist … so zu bestimmen, dass sie die rechtlich sittliche Liebe ist, wodurch das Vergängliche, Launenhafte und bloß Subjektive derselben aus ihr verschwindet.“ Ich gebe offen und ehrlich zu, ich war über das Ergebnis erschrocken. Weder im Grundgesetz, im Familienrecht oder in den Sozialgesetzbüchern ist der Begriff „Liebe“ geregelt.
Es gibt also für die Liebe keine Anspruchsgrundlage? Was sollte mein Prüfungsergebnis für seine Frage sein? (+) für: klar geht auf jeden Fall oder (-) für: in diesem Jahr geht nichts.
Mist, dachte ich, jetzt musst du selbst denken.
Beziehungen, die schon bestehen, haben es wahrscheinlich leichter, weil sich die Partner mit ihren Stärken und Schwächen schon gut kennen. Beziehungen, in denen beide Partner in einer Prüfungsphase sind, haben es sicher am besten, weil diese den Partner für seine Rücksicht bewundern können, obwohl er selbst nur lernt. Aber wie ist es mit dem Beginn einer Beziehung und all ihren Unsicherheiten?
Mir fiel der Hohn von Anatole France ein, der in „Der fliegende Händler“ schrieb: „Die Justiz ist sozial, und nur böse Geister wollen, dass sie auch menschlich und gefühlvoll sei.“ Haben wir in unserem Leben das zu erwarten? Was ist mit unseren Bedürfnissen nach einer liebevollen Berührung, jemandem, der einen versteht, oder einem Blick, der alles sagt? Was passiert, wenn die Freundin nur Justitia heißt? Sie sieht gut aus, trägt ein tolles Kleid und hat einen ausgewogenen Charakter. Sie ist immer rational und macht Pro- und Contra-Listen. Aber was wahre Liebe angeht, ist sie echt blind.
Bei einem Gang durch das juristische Seminar kam ich durch Zufall an der Bibel vorbei; streng genommen eine Rechtsquelle. Und da steht drin, die Liebe sei langmütig und freundlich, sie ertrüge alles, glaube alles, hoffe alles und dulde alles. Das sind doch selbst in anstrengenden Zeiten wie der Examensvorbereitung gute Voraussetzungen, um eine erfolgreiche Beziehung zu beginnen. Dann erträgt sie im schlimmsten Fall auch schlechte Noten. Und was verträgt die Note? Ich glaube, die verträgt einiges. Was soll ihr denn auch passieren? Ist die Liebe gut, wird sie einen beim Lernen beflügeln. Ist sie es nicht, wird sie einen nur behindern, wenn wir es selbst zulassen.
Was also kann die Examensvorbereitung der Liebe entgegensetzen? Nichts! Dem Freund schrieb ich daher zurück „geht immer, also (+)“. Und noch am gleichen Abend habe ich mich mit einer Freundin zum Abendessen verabredet. Die letzten Probeklausuren haben er und ich übrigens bestanden ;-)
Dein Alex