Der Philosoph Byung-Chul Han untersucht die „Transparenzgesellschaft“
Thomas Claer
Schon vielfach seit dem beinahe kometenhaften Aufstieg der Piraten in unsere etablierte Parteienlandschaft ist deren vehement eingefordertes Paradigma der Transparenz kritisch hinterfragt worden. Manche haben auf die hohe Bedeutung von Diskretion und informellen Absprachen in politischen Prozessen hingewiesen – ungeachtet der dabei immer bedrohlich nahen Schwelle zum Klüngel, zur Korruption und zum Gemauschel, versteht sich. Der Philosoph Byung-Chul Han aber hat in der Transparenz – viel umfassender – nicht weniger als eine allgemeine Tendenz unseres Zeitalters ausgemacht. Nach bewährtem Muster legt Han, der durch seine „Müdigkeitsgesellschaft“ längst einem größeren Publikum bekannt geworden ist, also wieder ein schmales Bändchen vor, das ausgehend von einem vieldiskutierten Stichwort gedankliche Ausflüge in unterschiedliche Richtungen unternimmt. Und diesmal ist es die Transparenz, die heute verbreitete Neigung, immer und überall alles und jedes öffentlich zu machen, an der er kaum ein gutes Haar lässt.
„Die menschliche Seele braucht offenbar Sphären, in denen sie bei sich sein kann ohne den Blick des Anderen“, stellt Han fest und beklagt – sich dabei terminologisch sowohl ganz links als auch ziemlich weit rechts bedienend – dass die kapitalistische Ökonomie alles dem Ausstellungszwang unterwerfe, während das 18. Jahrhundert, wie einst schon Carl Schmitt raunte, noch den aristokratischen Begriff des Geheimnisses gewagt habe. (Im übrigen wäre nach Carl Schmitt das Ende des Geheimen auch das Ende der Politik.) Zum einen erblickt der Verfasser nun im derzeit so angesagten allgemeinen Transparenzgebot einen inhumanen Ausbeutungs- und Kontrollmechanismus, dem sich die Menschen, man denke hier nur an die sozialen Netzwerke im Internet, paradoxerweise sogar freiwillig unterwerfen: „Es wird total. Keine Mauer trennt das Innen vom Außen.“ Zum anderen, was er als mindestens ebenso bedrohlich ansieht, nehme die Transparenz auch vielen anderen Dingen jeden Reiz. Ausführlich beschreibt Han, was etwa auf dem Felde der Erotik auf dem Spiel steht: „Der libidinösen Ökonomie ist die Transparenz fremd. Gerade die Negativität des Geheimnisses, des Schleiers und der Verhüllung stachelt das Begehren an und intensiviert die Lust.“ Und: „Allein ein Rück- und Entzug des Objekts entfacht die Lustökonomie.“ Mit Rückgriff auf Lacan resümiert er schließlich: „Nur auf dem Wege endlosen Aufschubs ist das Objekt erreichbar.“
Den philosophischen Begründer des Transparenzgedankens sieht der Verfasser in Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der seinerzeit alle Menschen dazu aufrief, schonungslos ihr Herz zu enthüllen. Doch schon bei diesem lasse sich beobachten, dass die Moral totaler Transparenz notwendig in Tyrannei umschlage. Heute führten solche Enthüllungen weniger zu einer „moralischen Läuterung des Herzens“ als vielmehr „zu maximalem Profit und maximaler Aufmerksamkeit. Die Ausleuchtung verspricht eine maximale Ausbeute.“
Was Han beschreibt, kennen wir bestens aus unseren Medien und womöglich sogar aus eigenem Erleben. Sicherlich ist sein Essay auch diesmal wieder einseitig, unterschlägt er doch fast alle emanzipativen Aspekte (und die ganz praktischen Erleichterungen), die ein Mehr an Transparenz ebenfalls mit sich bringen kann. Begründet jedoch erscheint der von Han vorgebrachte Verdacht, dass hier der Schaden den Nutzen bei weitem überwiegt, allemal. Allerdings übertreibt es der Autor ein wenig bei der Schilderung der „mehrdeutigen Codes“, welche eine erotische Spannung erzeugen. So viel Transparenz wäre an dieser Stelle gar nicht nötig gewesen…
Byung-Chul Han
Transparenzgesellschaft
2. Auflage Matthes & Seitz Berlin 2012
91 Seiten, EUR 10,00
ISBN: 978-3-88221-595-3