Der Roman „Nullzeit“ von Juli Zeh
Katharina Stosno
Tauchen ist einfach nicht mein Ding. Sogar beim „Seepferdchen“ musste ich deshalb tricksen: Während alle braven Kinder zu ihrem Ring am Beckenboden tauchten, nutzte ich die erstbeste Unaufmerksamkeit des Schwimmlehrers, um meinen Ring durch eine gekonnte Beinbewegung an die Wasseroberfläche zu befördern.
Womit ich allerdings nie ein Problem habe, ist das Abtauchen in faszinierende Geschichten. So wie zum Beispiel in die der Hauptperson aus „Nullzeit“, einem Juristen, der sich auf Lanzarote als Tauchlehrer eine Existenz unabhängig von Mandanten und Mandaten aufgebaut hat. Nach dem Staatsexamen entdeckte Sven, dass er sich in der Brandung des Atlantiks wesentlich wohler fühlt als im Dschungel der Paragrafen – schon allein diese Tatsache machte mir den Ich-Erzähler von Anfang an sympathisch. Als Sven seine nächsten Kunden, das Künstlerehepaar Jola und Theo, begrüßt, ahnt er nicht, dass zusätzlich zu zwei Wochen Tauchkurs mit Exklusivbetreuung auch ein intrigantes Spiel mit mörderischem Ausgang gebucht wurde.
Am Anfang scheint es so, als wäre das Ehepaar auf die Insel gekommen, um einen letzten Versuch zu unternehmen, seine Ehe zu retten. Zudem will sich Jola auf eine potentielle Rolle vorbereiten. Schnell rückt jedoch die Hass-Liebe der beide Eheleute in den Fokus: Einerseits gehen Jola und Theo liebevoll miteinander um, andererseits feinden sie sich an und schrecken auch vor gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht zurück. Sven ist zunächst irritiert, gleichzeitig aber auch fasziniert, ein Leben zu beobachten, das dem seinen so gar nicht gleicht.
Zwischen Sven und der exzentrischen Schauspielerin Jola entwickelt sich eine besondere Chemie – eine gefährliche Mischung aus Neu- und Begierde, Leidenschaft und Eifersucht, die zunächst Theo, dann Svens Lebensgefährtin Antje und am Ende fast auch Svens Existenz explodieren lässt. Während Sven unter Wasser stets die Kontrolle behält, verliert er sie an Land zunehmend durch die Annäherungsversuche der schönen Schauspielerin. „Es zog mich jetzt ebenso stark hinauf wie hinab. Unter mir Dunkelheit, über mir das Licht“, schreibt Sven. Diese Spannung, den Wechsel von Licht und Schatten, spürt man auf jeder Seite. Die Perspektive von Sven wird durch Jolas Tagebucheinträge unterbrochen; seine Schilderungen der Geschehnisse und ihre Einträge ergänzen sich anfänglich, sind mit fortschreitender Handlung jedoch alles andere als deckungsgleich. So wird immer undurchsichtiger, was Wahrheit und was Lüge sein soll. Wer ist Täter, wer ist Opfer?
„Nullzeit“ ist leicht zu lesen, ohne seicht zu sein. Auch wenn der Schluss nicht sonderlich überrascht und ich mir insgeheim einen anderen und vielleicht etwas mehr Blut und Rache für diesen Thriller gewünscht hätte, fand ich die Handlung insgesamt wahnsinnig spannend und abwechslungsreich erzählt; man möchte unbedingt weiterlesen und den Dingen auf den Grund gehen.
Juli Zeh schreibt so, wie man es von einer Juristin am wenigsten erwartet: schnörkellos und unverschachtelt. Ihre Sprache ist einprägsam, manchmal weht einem ein Hauch von Poesie entgegen, und hier und da hat sie eine Prise Humor eingestreut. Sätze wie „Eine Landschaft ohne nennenswerte Vegetation hatte es ebenso schwer wie eine Frau, die nichts Passendes zum Anziehen besitzt“ lassen einen trotz der Dramaturgie der Handlung schmunzeln.
Obwohl Wasser überhaupt nicht mein Element ist, hat Juli Zeh es geschafft, mich in die Tiefen dieses flüssig geschriebenen Thrillers zu entführen, ohne dass ich sie wegen Freiheitsberaubung belangen würde. Beim Lesen von „Nullzeit“ verschwimmen Raum und Zeit ähnlich wie unter Wasser, insofern eignet sich das Buch bestens für alle, die mal eine Auszeit von Staudinger und Co. brauchen. Das Cover ist übrigens besonders gelungen: Ein Korallenriff aus Händen zieht den Leser in die Geschichte hinein – fesselnd geschrieben lässt sie einen bis zur letzten Seite nicht mehr los.
Fazit: Mein Zeigefinger berührt meinen Daumen und bildet eine Null, die anderen drei Finger zeigen nach oben. Absolut lesenswert.