Recht cineastisch Spezial: Vor 35 Jahren erschien die DDR-Fernsehserie „Spuk unterm Riesenrad“
Thomas Claer
Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre verbrachte ich im Sommer manchmal ein oder zwei Ferienwochen bei meinen Großeltern in einer ostmecklenburgischen Kleinstadt ohne Farb- und – was viel schlimmer war! – ohne Westfernsehen. Es war schon starker Tobak für ein fernsehverwöhntes Kind wie mich, ausgerechnet in den Schulferien mit nur zwei Programmen auskommen zu müssen, wie man sie sich langweiliger und eintöniger nicht vorstellen kann: DDR 1 und DDR 2! Manchmal fing auch noch das Bild zu flackern an. Dann stand mein Opa auf, ging bedächtig zu jenem großen Holzkasten mit Röhre, den man damals Fernsehapparat nannte, und klopfte einmal kräftig mit der Faust drauf. Das Bild wurde davon zwar meistens auch nicht besser, aber mein Opa konnte wenigstens mal so richtig seinen Ärger rauslassen.
Doch hatte es eine glückliche Fügung mit sich gebracht, dass gerade als ich in diesem „Tal der Ahnungslosen“ weilte (so nannte man damals die Gebiete des Ostens ohne Westfernsehempfang), im Ferienprogramm zum wiederholten Male die wirklich unübertreffliche Kinder-Serie „Spuk unterm Riesenrad“ ausgestrahlt wurde: eine Folge täglich. Was konnte es Schöneres geben? Ich kann mich auch nicht erinnern, dass überhaupt jemals irgendeine DDR-Filmproduktion bei uns westfernsehverdorbenen Ost-Kindern so gut angekommen wäre wie diese schaurig-schöne Spukgeschichte, von der es wegen ihres großen Erfolgs später auch noch eine zweiteilige Kino-Version gab. Drei Kinder im Grundschulalter verbringen die Ferien (so ähnlich wie ich in der Wirklichkeit) bei ihren Großeltern – allerdings nicht in irgendeinem Kaff, sondern auf einem Rummel, genau genommen im größten Freizeitpark der DDR in Berlin-Plänterwald. Ihr Großvater betreibt dort die Gespensterbahn, und auf mysteriöse Weise werden seine drei furchterregendsten lebensgroßen Figuren, nämlich Hexe, Riese und Rumpelstilzchen, zum Leben erweckt. Die drei Geister machen sich aus dem Staub und werden von den Kindern im Auftrag ihres Opas und bald auch von der Volkspolizei gejagt. Sie, die letztmalig irgendwann im Mittelalter lebendig waren, irren durch Ost-Berlin, wundern sich über dieses und jenes, fahren U-Bahn (man erkennt den U-Bahnhof Samariterstraße, heute absolute Friedrichshainer Szenelage) und besuchen das HO-Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz (heute Galeria Kaufhof). Zwischendurch warten sie mit allerhand Zauberkunststücken auf.
Wie sehr dabei eigentlich unentwegt der triste DDR-Alltag mit seinen heiter-tragischen Momenten auf die Schippe genommen wird, ist mir so richtig erst jetzt beim Ansehen der DVD klar geworden. Und die bürokratisch-vertrottelten Volkspolizisten! Und die nachgestellten stocksteifen Nachrichten der „Aktuellen Kamera“, die am Anfang jeder Folge über die Flucht der Gespenster berichten! Das ist mitunter von atemberaubender Komik. Überhaupt entdeckt man so viele kleine Nebensächlichkeiten. Wie schlecht zum Beispiel die Kinder zu jener Zeit behandelt wurden! Damals im Osten durfte man fremde Kinder einfach so anbrüllen oder ihnen Schläge androhen, da fand niemand etwas dabei. Es hat schon seinen Grund, wenn wir Ostdeutschen unserer Generation, jedenfalls verglichen mit gleichaltrigen Westdeutschen, immer etwas gehemmt und vorsichtig sind. Bei manchen Klassentreffen ist das schon ziemlich auffällig.
Es geht dann so weiter, dass die Hexe im Warenhaus keinen Besen finden kann und stattdessen einen Staubsauger erwirbt. (Da die Geister völlig mittellos sind, muss sie ihn stehlen, so wie der stets hungrige Riese allerhand Würstchen aus der Fleischabteilung und Rumpelstilzchen kostbaren Schmuck erbeutet.) Auf dem Staubsauger – die Stromversorgung gelingt, indem sie den Stecker dem stets wütenden Rumpelstilzchen kurzerhand in die Nase stecken – fliegen die Drei dann in den Harz und verschanzen sich schließlich in der Burg Falkenstein, wo die Hexe in besseren Tagen einmal ein edles Burgfräulein gewesen ist, das erst durch einen bösen Zauber zur Hexe mutierte. Am Ende werden Hexe und Riese, zwischen denen sich eine zunehmende erotische Spannung entwickelt („Ach, lieber Gevatter!“) durch gezielten Gegenzauber zu guten Menschen und anständigen DDR-Bürgern (ihnen werden feierlich die blauen Personalausweise ausgehändigt), während das unverbesserlich böse Rumpelstilzchen, das zwischenzeitlich ein kleines Mädchen entführt und um ein Haar die Burg angezündet hätte, um vom Museumsdirektor die Einsetzung als neuen Burgherren zu erpressen, zur Strafe wieder in eine Geisterbahn-Puppe zurückverwandelt wird.
Das namengebende Riesenrad ist im Plänterwald noch heute als Ruine zu bewundern. Überhaupt ist der Spreepark, wie er seit der Wende heißt, inzwischen ein verwunschener Ort geworden, seit der letzte Investor aus dem Westen bei seinem Versuch einer Wiederbelebung der Fuhr- und sonstigen Geschäfte vor zwölf Jahren Pleite ging. Es gab seitdem schon die verrücktesten Ideen, wie man das Gelände in bester Wasserlage, gleich hinter dem Treptower Park mit seinem kolossalen sowjetischen Ehrenmal, künftig nutzen könnte. Erich von Däniken wollte dort sogar einen Erlebnispark für Außerirdische errichten. Bis heute wurden aber alle potentiellen Investoren von der noch vom letzten Spreepark-Betreiber herrührenden immensen Schuldenlast abgeschreckt, die auf dem Pachtvertrag für das Grundstück lastet, in den jeder neue Investor einzutreten hätte. Als Zwischennutzung finden dort manchmal Popkonzerte statt, wie jenes legendäre im Mai 2013, als die Gruppe „The XX“ dort vor über 12.000 Berliner Hipstern spielte. Ach, wäre man da doch nur dabei gewesen!
Spuk unterm Riesenrad
DDR 1979
Länge: 200 Minuten (in 7 Teilen)
Regie/Drehbuch: C.U. Wiesner, Günter Meyer
Musik: Thomas Natschinski
Darsteller: Katja Paryla (Hexe), Stefan Lisewski (Riese), Siegfried Seibt (Rumpelstilzchen), Kurt Radeke (Opa), Käthe Reichel (Oma), Katrin Raukopf, Dima Gratschow, Henning Lehmbäcker (Kinder), Harry Pirtzsch (Leutnant Märzenbecher)