Für den renommierten Essener Gerichtspsychiater Norbert Leygraf sind Schwerverbrecher in erster Linie Täter – und mitnichten „Patienten“
Benedikt Vallendar
Münster – Segeln ist sein großes Hobby. „Dabei komme ich leicht auf andere Gedanken“, sagt Norbert Leygraf. Im Sommer zieht es ihn meist ans Meer, wo er den blauen Himmel, kleine Wolken und die frische Luft genießt. Oft liegen dann anstrengende Wochen hinter ihm. Nicht nur wissenschaftliche Mitarbeiter und Studenten suchen den Rat des habilitierten Arztes, auch mit Berufskriminellen und Triebtätern muss er sich von Berufs wegen auseinandersetzen. Leygraf, dreifacher Vater, wohnt in Münster in einem schmucken Reihenhaus. Das erste Boot hat sich der passionierte Segler 1997 von den umgerechnet 11 000 Euro Preisgeld der Hermann-Simon-Stiftung für Sozialpsychiatrie gekauft, mit denen seine Habilitationsschrift über „Psychisch kranke Rechtsbrecher“ ausgezeichnet wurde. Mit 37 Jahren hat er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen erhalten, als Deutschlands jüngster Psychiatrieprofessor.
Schuldig, nicht krank
„Nicht alle, die grausame Straftaten begehen, sind automatisch krank“, sagt Leygraf. Eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nahm die Psychiatrie lange Zeit nur bei klassischen psychiatrischen Krankheiten, wie etwa Schizophrenie, an. „Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Fehlentwicklungen wurde in der Regel kein Krankheitswert beigemessen.“ Das hat sich geändert. „In den 1980er-Jahren gab es dann sogar in der allgemeinen Begutachtungspraxis den Trend, abnorme Verhaltensweisen allzu schnell als Nachweis einer die Schuldfähigkeit beeinträchtigenden psychischen Störung anzusehen“, so Leygraf. Es wurde als Zeichen von „Liberalität“ angesehen, Strafe durch Therapie zu ersetzen. Dies führte zu einer vermehrten Unterbringung von Gewalttätern im psychiatrischen Maßregelvollzug. Während der Begutachtungstrend sich ab Ende der Siebzigerjahre zu vermehrter Zuerkennung verminderter Schuldfähigkeit entwickelte, machte Leygraf in seiner eigenen Lehre eine gegenläufige Entwicklung durch. Nach wie vor hält er es für „nicht sonderlich liberal“, einem Menschen die Verantwortung für sein Handeln abzuerkennen.
„Schauspieler“ statt Patienten
Nicht die kleinen, sondern die großen Fische gehören von jeher zu den Klienten des Münsteraner Gelehrten. Mit dem Wort „Patienten“ geht der Professor sparsam um. Lieber spricht er von Tätern. Die Bezeichnung „Patient“ lässt er nur zu, wenn die strafbare Handlung Folge einer krankhaften Störung war, wie etwa bei Astrid Streidel, die den ehemaligen SPDKanzlerkandidaten Oskar Lafontaine bei einem Wahlkampfauftritt 1990 in Köln mit einer Messerattacke lebensgefährlich verletzte. Zwischen Wissen und Gewissen Über die Lafontaine-Attentäterin, die bis heute in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung sitzt, hat Leygraf ebenfalls ein Gutachten verfasst. „Die Frage ,Patient oder Straftäter?‘ ist nicht immer leicht zu beantworten“, sagt er und wirkt nachdenklich. War es eine Tat, die auf einer psychisch bedingten Fehlveranlagung des Täters beruhte, oder schlichtweg ein Verbrechen, für das der Täter die volle Verantwortung übernehmen muss? Selbst für Fachleute sei es eine Gratwanderung zwischen Wissen und Gewissen, zwischen dem, was sich aus der Vergangenheit eines Täters und seiner Tat herauslesen lasse, und den Schlüssen daraus für den weiteren Lebensweg, gesteht Leygraf. Die Frage der Schuldfähigkeit könne nicht immer exakt beantwortet werden. Er fühle sich nicht als Prophet, sondern als Arzt, der seine Gutachten wissenschaftlich belege und empirisch untermauere. Auch mit dem Risiko, falsch zu liegen. „Den meisten meiner Kollegen geht es da nicht anders“, sagt er und wundert sich: „Zuweilen bin ich erstaunt darüber, wie sich trotz verstärkter Qualifizierungsmaßnahmen noch immer gutachterliche Laienschauspieler mit wohlklingender Pseudowissenschaftlichkeit vor Gericht ausbreiten können“.
Der Fall Magnus Gäfgen
Immer wenn die Justiz hilflos vor der Beurteilung besonders grausamer Verbrechen steht, ist Leygrafs Rat gefragt. In der Fachwelt gilt der 60 Jährige als Koryphäe. Seit Januar 1991 ist er Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Rheinischen Klinken Essen. Einer seiner spektakulärsten Begutachtungsfälle war der des Kindsmörders Magnus Gäfgen, der im Oktober 2002 in Frankfurt am Main den elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler entführte, erstickte und die Familie des Opfers anschließend um eine Million Euro erpresste. Mit Plänen zur Gründung einer eigenen Stiftung für jugendliche Verbrechensopfer macht der ehemalige Jurastudent und rechtskräftig verurteilte Täter kurzzeitig wieder auf sich aufmerksam. „Das nachträgliche Verhalten Gäfgens wundert mich nicht“, sagt Leygraf ruhig. Im November 2002 hatte er dem heute 38-Jährigen nach mehreren Sitzungen in der Justizvollzugsanstalt Münster einen „Hang zum Narzissmus“ bescheinigt und damit die Echtheit seiner tränenreich dargebrachten Reue in der Hauptverhandlung vor dem Frankfurter Landgericht angezweifelt. „Die Tränen, die Herr Gäfgen hier im Gerichtssaal vergossen hat, galten nicht seinem Opfer, sondern ihm selbst“, hatte der Staatsanwalt damals angemerkt. Später musste sich der Professor von Gäfgen den Vorwurf gefallen lassen, er habe ihn „voreingenommen“ begutachtet und ihm damit das Urteil „lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld“ eingebrockt. In seinem Buch „Allein mit Gott. Der Weg zurück“, das der Kindsmörder in seiner Zelle schrieb und über das Internet vertreibt, lässt Gäfgen kein gutes Haar an Leygraf. „Herr Professor Leygraf hielt es für seine Aufgabe, mich möglichst lange hinter Gitter zu bringen“, beschwerte er sich über seinen Gutachter. Der Attackierte wiederum zeigte sich von den Anschuldigungen unbeeindruckt. „Herr Gäfgen hat sich bis heute nicht im Geringsten mit seiner Tat auseinandergesetzt“, kommentiert Leygraf die Vorhaltungen. Mit seinen Verbalattacken errichte Gäfgen „Nebenschauplätze“, um von seiner Schuld abzulenken. Die Stiftungspläne seien ein PR- und Verdrängungsmanöver, das darauf abziele, eine künstliche Wand zwischen Täter und Tat zu errichten.
Die Katharsis der RAF
„Solche Verhaltensmuster trifft man bei Schwerkriminellen wie Herrn Gäfgen immer wieder an“, sagt Leygraf. Der Psychiater hält es für zweifelhaft, dass sich die Vollstreckungskammer von den vermeintlichen Reuebekenntnissen Gäfgens beeindrucken lässt – auch später nicht, wenn irgendwann mal die Entlassung des ehemaligen Jugendbetreuers zur Diskussion stehen sollte. Ganz anders hätten sich die Häftlinge aus der Rote-Armee Fraktion (RAF) verhalten, über die Leygraf ebenfalls prognostische Gutachten erstellt hat. Die einstige RAF-Rädelsführerin Brigitte Mohnhaupt, die Leygraf im Herbst 2005 in der Justizvollzugsanstalt Aichach in Bayern traf, sei heute eine „zurückhaltend wirkende, freundliche ältere Dame“, sagt er. Ein Außenstehender käme kaum auf den Gedanken, dass ihm da die einst „gefährlichste Frau Deutschlands“ gegenübersitze. „Frau Mohnhaupt steht weiterhin zu ihrer Verantwortung für das, was sie mit anderen im ,deutschen Herbst‘ 1977 mit der Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und anderen Straftaten angerichtet hat.“ Auch wenn sie die Dinge heute aus „kritischer Distanz“ betrachte, habe Mohnhaupt nie den Versuch unternommen, durch Ablenkungsmanöver ihre Verantwortung für die Morde an Buback, Ponto und Schleyer infrage zu stellen. Das zeuge von ehrlich gemeinter Tat-Auseinandersetzung und Charakterstärke, so Leygraf. Und das trotz der Verbrechen und dem Leid, das sie anderen zugefügt habe. Mit der ehemaligen Philosophiestudentin Brigitte Mohnhaupt verbinden Leygraf nicht nur Gutachten und Gespräche, sondern auch Herkunft und schulischer Werdegang. Beide wurden sie am Niederrhein geboren. Beide stammen aus einfachen Verhältnissen und konnten dennoch die höhere Schule besuchen, diese erfolgreich abschließen und studieren. Leygraf, Jahrgang 1953, hat seine Kindheit in einem kleinen Dorf am Niederrhein verbracht. Sein älterer Bruder studierte Jura und ist heute Vorsitzender Richter am Strafsenat eines Oberlandesgerichts. Brigitte Mohnhaupt hätte die Schwester der beiden sein können, sie ist nur vier Jahre älter als Norbert Leygraf.