Als „Volkskrieg“ pervertierte der erste Weltkrieg den Humanismus humboldtscher Prägung – auf dem die Deutschen zuvor ihr höheres Bildungswesen aufgebaut hatten. Wie konnte es soweit kommen?
Benedikt Vallendar
Verdun – Noch immer ist das Grauen zum Greifen nah. Besonders zu Beginn der nasskalten Jahreszeit. Der Dreck, die Ratten, der Regen und die allgegenwärtige Angst vor einem grausamen Tod, der über den Männern wie ein Damoklesschwert hing. Wer heute nach Verdun kommt, der kann die Überreste der Schlacht von 1916, die Bunker, Gräben und Geschütztürme besichtigen, in denen in zehn Monaten mehrere Hunderttausend französische und deutsche Soldaten ihr Leben ließen. Wo einst Artillerieposten standen, in Feldlazaretten vor Schmerzen wahnsinnig gewordene Verwundete dem nahen Tod ins Auge blickten, stehen heute schmucke Einfamilienhäuser, ein Supermarkt und mehrere Internetcafés. Friedlicher könnte es hier kaum zugehen. Die Sonne scheint durch die Bäume, Pärchen mit Kindern flanieren durch die gepflegten Grünanlagen, und unweit eines ehemaligen Bunkers duftet es nach frischem Kuchen aus einer nahe gelegenen Konditorei.
Fast zehn Monate dauerte das Gemetzel im zweiten Kriegsjahr 1916. Ohne dass es einer Seite nennenswerte Geländegewinne, gar strategische Vorteile für den weiteren Kampfverlauf gebracht hätte. Vielmehr verbissen sich Deutsche, Franzosen und Briten in einem jahrelangen Grabenkrieg, bei dem Nässe, Kälte und Dreck ihre ständigen Begleiter waren. Zum endgültigen Irrsinn mutierte das Kriegsgeschehen, als im Sommer 1916 an der Sommes in Nordfrankreich die bis dahin größte Schlacht der Menschheitsgeschichte losbrach. Am Ende mussten mehr als eine Million Menschen den Ehrgeiz ihrer politischen und militärischen Führer mit dem Leben bezahlen. Von Mitleid mit den Betroffenen und ihren Familien war in diesen Monaten wenig zu spüren. Politiker und Militärs peitschten ihre Truppen in immer irrwitzigere Schlachten, derweil in Deutschland 1917 auch noch eine Hungersnot ausbrach. Missernten und die englische Seeblockade führten das Deutsche Reich immer weiter an den Rand des Abgrunds. Fast 20 Millionen Tote lautete die verheerende Bilanz nach mehr als vier Jahren Gewalt und Zerstörung, deren Schauplätze sich erstmals rund um den Globus erstreckten, und deren Chronologie daher als „erster Weltkrieg“ in die Geschichte eingegangen ist. In seinem vielbeachteten Buch „Die Schlafwandler“ (2013) hat der australische Historiker Christopher Clark erstmals die Hintergründe veranschaulicht, die in die Katastrophe geführt haben. Abstand nimmt Clark von der viel beschworenen These, Deutschland trage die Hauptschuld am Ausbruch des Konflikts.
Steilvorlage für Hitler
Der erste Weltkrieg war in vielem ein Novum. Hatten Kriege bis dahin oft außerhalb bewohnter Ortschaften, auf freiem Felde stattgefunden, bekam ihn diesmal auch die Zivilbevölkerung hautnah zu spüren. In Verdun schlugen deutsche Granaten selbst auf dem Marktplatz ein und töteten dort Zivilisten, Frauen, Greise und Kinder. Erste Luftangriffe mit Zeppelins auf London waren Vorboten dessen, was ein viertel Jahrhundert später auf die Bewohner des alten Kontinents zukommen sollte. Wie fast immer nach von Menschenhand gemachten Katastrophen stellte sich auch hier die Frage nach dem „Warum“. Im Herbst 1918 stand die Welt vor einem Scherbenhaufen, einer ökonomischen und menschlichen Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes. Fast eine ganze Generation junger Männer hatte der Waffengang ausgelöscht. Bei ihrer eigenen Bevölkerung wollten die Siegermächte gar nicht erst in den Verdacht geraten, den Krieg vielleicht mit verursacht zu haben. Der Einfachheit halber schoben sie Deutschland in Artikel 231 des Verssailler Friedensvertrages von 1920 die alleinige Kriegsschuld in die Schuhe, was Adolf Hitler wenige Jahre später den Weg an die Macht ebnete. Partei übergreifend hatte die Kriegsschuldfrage in der jungen Weimarer Republik für große Empörung gesorgt. Obwohl die Frage der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands inzwischen selbst unter französischen und englischen Historikern umstritten ist, war die Entourage um den deutschen Kaiser Wilhelm II. im Sommer 1914 keinesfalls schicksalhaft in den Abgrund gesteuert. Wie in kaum einem anderen europäischen Land war die Kriegsbegeisterung in Deutschland groß. Am Brandenburger Tor steckten junge Mädchen Soldaten Blumen auf die aufgepflanzten Bajonette, im Berliner Wedding spielten Arbeiterkinder mit Büchse, Bettlaken und Blechtrompete Krieg, und vor Gymnasiasten dozierten Studienräte über „Ruhm und Ehre auf dem Schlachtfeld“. Es schien, als sei im August 1914 das ganze deutsche Volk auf den Beinen gewesen, um den lange ersehnten Kriegsausbruch zu feiern. In Frankreich hingegen war die Bevölkerung entschlossen, Revanche für die Niederlage von 1870/71 zu nehmen und sich von den Deutschen nicht erneut wie Lämmer zur Schlachtbank führen zu lassen.
Ohne Zweifel war die Affinität für alles Militärische in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs tief verwurzelt. In vielen Familien hing, wie selbstverständlich, ein Porträt des Kaisers in der guten Stube, oft neben Otto Fürst von Bismarck, dem verdienten Feldherrn und Reichskanzler. Wenn sonntags preußische Infanteristen im Stechschritt über das Tempelhofer Feld in Berlin defilierten, ergötzten sich zahlreiche Bürger an dem bunten Spektakel. Des Kaisers Soldaten waren eine Attraktion. Gesellschaftliche Anerkennung genossen die, die es dort zu etwas „gebracht“ hatten, und wenn es der Dienstgrad eines Unteroffiziers war. Auch Kinder zogen die preußischen Militärs in ihren Bann. Der Marineanzug als Standardbekleidung für Erstklässler war Ausdruck der Begeisterung für das deutsche Flottenbauprogramm, das die Rivalität mit Großbritannien um die Vorherrschaft auf See verschärft hatte.
Humanismus ohne Humanität
Dass sich auch große Teile der gebildeten, deutschen Mittel-und Oberschicht unkritisch für schillerndes Kriegsgerassel begeisterten, war nicht zuletzt eine Folge der Defizite im höheren Bildungswesen, das einst mit Wilhelm von Humboldt (1769-1835) von Preußen aus seinen Siegeszug durch das Reich angetreten hatte. Bis heute steht Humboldt für einen Mutationswechsel in Sachen höherer Bildung. Mit seinen neuhumanistischen Bildungsdealen, die sich vor allem an den antiken Sprachen orientierten, hat Humboldt maßgeblich dazu beigetragen, dass in Deutschland eine akademische Elite heranwuchs und sich das Land zu einem international anerkannten Forschungsstandort entwickeln konnte. Viele der mehr als ein Dutzend deutschen Nobelpreisträger der Weimarer Republik hatten ihr Reifezeugnis einst auf einem preußischen Gymnasium erworben. Allein die Schwachstellen des elitären, preußischen Schulsystems erklären, weshalb sich zwischen 1914 und 1918 ganze Abiturientenjahrgänge in gegnerisches MG-Feuer stürzten und aus einst gewissenhaften Oberprimanern skrupellose Kriegsbarbaren wurden. Niemals hatte es das preußische Gymnasium, das sich selbstbewusst „humanistisch“, also dem Menschen zugewandt nannte, vermocht, in seiner Begeisterung für die Klassiker der Antike, einen ethischen Bezug zu Fragen des Seins und Miteinanders zu schaffen. Das menschliche Gewissen als Kontrollinstanz allen Tuns, spielte in der schulischen Erziehung Preußens kaum eine Rolle. Humanismus und Humanität erschienen fast wie Gegensatzpaare. Es verwundert daher kaum, dass die Schriften antiker Autoren an preußischen Gymnasien zu reinen Bühnenstücken verkommen waren, deren gesellschaftspolitische Botschaft im Dunkeln blieb, ja bleiben sollte. Es galt als Ausdruck „guter Bildung“, allein die alten Schriften in ihrer Originalfassung zu lesen, ohne daraus Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen.
Gesellschaftliche Institutionen, allen voran die katholische Kirche, die für sich in Anspruch nahm, als moralischer Wegweiser zu dienen, hatten an preußischen Schulen nur einen geringen Stellenwert. Religion, gar christlicher Religionsunterricht, war an der von Humboldt geschaffenen „Schule neuen Typs“ nur ein Randphänomen, ohne nennenswerte Stundentafeln oder gar eigenem, didaktischen Rahmenprogramm. Stets blickte die preußische Kultusbürokratie, die ab 1871 immerhin für fast zwei Drittel des Reichsgebiets zuständig war, mit Argwohn auf die katholische Kirche, in deren Schulen von jeher Werte wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Solidarität mit Schwächeren vermittelt wurden. Derartiges passte so gar nicht in die Denkschablonen preußischer Militärs, die nach Ruhm und Ehre schielten und christliche Werte gerne als defätistischen Unsinn diffamierten. Auch im preußischen Elementarschulbereich, den Volks- und Bürgerschulen, hatte der christliche Glaube einen schweren Stand.
Religionsunterricht beschränkte sich auf den Zwergschulen in Mecklenburg und im katholischen Emsland, wenn überhaupt, auf das Auswendiglernen von Bibelstellen und die von Kindesbeinen an zu lernende Ehrfurcht vor der geistlichen Obrigkeit.
Stoff für Hollywood
Als „Kulturkampf“ unter Federführung des späteren Reichskanzlers Otto von Bismarcks, der sich vor allem gegen den katholischen Einfluss im Bildungsbereich wandte, ist der Konflikt in die Geschichte eingegangen. 1871 verschwand die katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium. Der berüchtigte „Kanzelparagraph“ stellte im Kaiserreich politische Stellungnahmen Geistlicher in Predigten erstmals unter Strafandrohung. Erst 1953 tilgte die Bundesrepublik die Vorschrift aus ihrem Strafgesetzbuch. 1872 verlor der Jesuitenorden das Recht, weitere Niederlassungen im Reich zu gründen. Fast schon legendär war die Auseinandersetzung zwischen Bismarck und dem Reichstagsabgeordneten Ludwig Windthorst, der als Justizminister im Königreich Hannover gewirkt hatte. Der streng gläubige Katholik Windthorst war Bismarck immer ein Dorn im Auge gewesen. Kaum einen politischen Gegner soll Bismarck mehr gehasst haben, als den kleinwüchsigen Monokelträger und rechtschaffenden Juristen. Ludwig Windthorst hatte maßgeblich dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat auf diplomatischem Parkett gelöst wurde. Systematisch hatte die preußische Schulbürokratie in den Jahrzehnten zuvor dafür gesorgt, dass die Vermittlung christlicher Werte aus dem Bildungswesen verbannt wurde. Ziel preußischer Erziehung war zwar der selbstständig denkende und handelnde Bürger. Dieser sollte sich jedoch allein dem Staat und seiner weltlichen Obrigkeit, Verwaltung und dem Militär verpflichtet fühlen. Ideale Voraussetzungen also, um ein Heer aus willfährigen Soldaten und Offizieren heranzuziehen. Das preußische Bildungswesen, das von anderen, deutschen Teilstaaten in vielem kopiert worden war, brachte einen Menschentypus hervor, der, wenn es die Regierung so wollte, Menschen anderer Nationalität per se zu „Feinden“ abstempelte. Es würde jedoch zu kurz greifen, anzunehmen, preußische Pennäler hätten ihre Schullaufbahn allesamt als blind gehorche
nde Mordgesellen im Stile späterer SS-Kader verlassen. Es war nicht zuletzt der im Kaiserreich weit verbreitete Untertanengeist und das kollektive Bewusstsein, als Deutsche einer gemeinsamen, von „Feinden“ umzingelten Kulturnation anzugehören, der den Massenansturm junger Männer auf die Rekrutierungsstellen im Sommer 1914 erklärlich macht. Was Krieg jenseits aller Kriegspropanda tatsächlich bedeutet, erfuhren die jungen Männer meist erst auf den Schlachtfeldern in Flandern, Bulgarien und an der Marne. Ein unbekannter, Osnabrücker Sportjournalist namens Erich Maria Remarque verarbeitete seine Kriegserlebnisse später in dem Roman „Im Westen nichts Neues“ (1929), der zu einem Welterfolg wurde. Selbst Hollywood nahm sich des Stoffes an. Und es ist wohl eine Ironie der Geschichte, dass sich das deutsche Oberkommando nach der unabwendbaren Niederlage im November 1918 mit Matthias Erzberger ausgerechnet eines praktizierenden Katholiken und Zentrumsabgeordneten bediente, um mit den Alliierten einen Waffenstillstand auszuhandeln.