Lena Foljanty widmet sich in ihrer Dissertation den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit
Matthias Wiemers
Die jüngere deutsche Rechtsgeschichte innerhalb der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist längst nicht auserzählt. Umso mehr freut es, wenn in letzter Zeit Arbeiten erscheinen, die sich mit interessanten Einzelaspekten dieser Rechtsgeschichte auseinandersetzen. Eines dieser Werke ist die im Jahre 2011 bei Joachim Rückert und Michael Stolleis in Frankfurt als Dissertation betreute Arbeit von Lena Foljanty, die sich mit der auch sonst als „Naturrechtsrenaissance“ bekannten Entwicklung nach 1945 auseinandersetzt, innerhalb der sich Rechtswissenschaftler nicht nur vom Nationalsozialismus, sondern fast mehr noch vom vorherigen Rechtssystem der Weimarer Republik abzusetzen suchten, indem sie praktisch dem angeblich vorherrschenden Rechtspositivismus der Weimarer Jahre die Verantwortung für die Rechtsperversion im Nationalsozialismus (mit-)zuschoben.
Spätestens seit der großartigen Habilitationsschrift von Bernd Rüthers „Die unbegrenzte Auslegung“ (1968) wissen wir zwar prinzipiell, dass dies nicht zutraf, weil es gerade die „Schleusenbegriffe“ wir „Treu und Glauben“, „gute Sitten“ o. ä. waren, die es systemkonformen Richtern erlaubten, nach 1933 das Recht zunächst ohne geänderten Wortlaut im Sinne des neuen Regimes auszulegen und umzudeuten. Diese Erkenntnis kam jedoch spät und darf bis heute noch keinesfalls als Allgemeingut gewertet werden. Wie aber die Auseinandersetzung der Juristen mit der Alternative Naturrecht oder Positivismus vor der Folie einer Selbstbewältigung der (eigenen) jüngsten Vergangenheit vor sich ging, dies zeigt uns Lena Foljanty. Sie hat sich hierzu hinsichtlich der behandelten Personen beschränken müssen – wenngleich die in sieben Kapitel aufgeteilte Arbeit an inhaltlicher Tiefe nur wenig zu wünschen übrig lässt.
Kapitel eins gibt in seiner Überschrift bereits wieder, worum es einigen Autoren in der unmittelbaren Nachkriegszeit offenbar ging: „Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus als mächtiger Gegner“. Der Positivismus wurde als Feindbild aufgebaut, was die Autorin minutiös nachweist.
Im zweiten Kapitel geht es um die Diskussion richterlicher Entscheidungen in der Umbruchzeit 1945-1949. Themen sind hier u. a. die Radbruch´sche Formel und das Kontrollratsgesetz Nr. 10 über den Umgang mit nationalsozialistischem Unrecht, das rückwirkend Strafbarkeit begründete..
In den Kapiteln drei und vier stellt die Autorin die Renaissance des katholischen Naturrechts und entsprechenden Diskussionen im Bereich des Protestantismus dar. Im fünften Kapitel geht es um die „Dynamisierung des Naturrechts“ in den 1950er Jahren, wo sich Foljanty vor allem mit den Schriften Helmut Coings auseinandersetzt, der eine Neubegründung des Naturrechts versucht hatte. Aber auch andere maßgebliche Rechtsphilosophen und Rechtstheoretiker kommen zu Wort. Im sechsten Kapitel, das einen ersten Abschluss der Arbeit darstellt und mit einem Abschnitt „Zusammenfassung und Ergebnisse“ endet, werden die zuvor dargestellten Naturrechtsdebatten miteinander verglichen und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Einige der zentralen Aussagen lauten hierbei: „Die Besinnung auf Naturrecht war nach 1945 die Möglichkeit, mit der Vergangenheit zu brechen, ohne über individuelle Schuld und eigene Handlungsmuster öffentlich nachdenken zu müssen. (…) Eine Jurisprudenz, die sich dem Naturrecht geöffnet hatte, galt als eine, die aus eigener Kraft ihre Legitimität zurückerlangt hatte. Die Naturrechtsdebatten ermöglichten es damit allen, sich an einem Neuanfang für die Jurisprudenz zu beteiligen.“ (S. 342)
Im (nochmals) abschließenden siebten Kapitel findet die Autorin zunächst den Übergang von den herrschenden Naturrechtsdebatten („Abklingen der Naturrechtsdebatten“) über das Aufkommen der „Rechtstheorie“ in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren und kommt dann zur erneuten Frage nach dem Naturrecht angesichts der notwendigen Auseinandersetzung mit dem DDR-Regime im Zuge der deutschen Wiedervereinigung. Foljanty zeichnet hier in gehörigem Abstand von gut 20 Jahren knapp nach, wie anders der Umgang mit dem ja häufig als „Unrechtsregime“ apostrophierten zweiten deutschen Staat erfolgte. Auch hier seien abschießende Sätze der Autorin im Wortlaut zitiert: „Es wäre anachronistisch zu behaupten, dass diese Fragen bereits nach 1945 hätten diskutiert werden können und sollen. Sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Erinnerung zu beschäftigen und nach dem Beitrag zu fragen, den das Recht dazu leisten könnte, war nicht denkbar, solange in Frage stand, ob die Jurisprudenz überhaupt wieder legitim über Recht würde sprechen können. (…) Die Naturrechtsdebatten … legten auch einen Grundstein für einen auf Justiz und Jurisprudenz verengten Blick im Nachdenken über Recht. Den Zugang zu erweiterten Perspektiven auf Recht, Demokratie und Vergangenheitsschuld versperrten sie damit auf Jahrzehnte.“ (S. 370 f.)
In Zeiten, in denen die „Grundlagenfächer“ im juristischen Studium nicht mehr die Rolle früherer Zeiten zu spielen scheinen und in denen Bachelor und Master möglicherweise nur vorerst vor die Schranken der Juristenausbildung gewiesen wurden, bietet Foljantys Arbeit einen ausgezeichneten Zugang zu Grundlagen unserer Wissenschaft gerade für junge Juristen, die eine vielleicht aus der Schulzeit mitgebrachte gesellschaftswissenschaftliche Neugier noch nicht gänzlich verloren haben.
Lena Foljanty
Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit
Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2013 (zugl. Diss. Berlin 2011)
412 S., 99 Euro
ISBN 9783161520037