Warum der Staat zu bequem ist, ein ordnungsgemäßes Auswahlverfahren durchzuführen
Marc Nüßen
Ein befreundeter Rechtsreferendar beklagte sich neulich über seine Klausurnoten im Assessorexamen. Seinen Traum von der Richterstelle könne er nun ad acta legen. Ich habe mich für ein Richteramt nie interessiert. Deshalb erfuhr ich an dieser Stelle zum ersten Mal von den Voraussetzungen, die ein Bewerber dafür erfüllen muss.
Das Justizministerium Nordrhein-Westfalen hat mit Erlass vom 29.06.1999 die Voraussetzungen für die Einstellung in den richterlichen Probedienst des Landes geregelt. Danach können auch solche Bewerber zu einem Auswahlgespräch eingeladen werden, die in der zweiten juristischen Staatsprüfung weniger als 9,0 Punkte aber mindestens 7,76 Punkte erreicht haben und sich durch besondere persönliche Eigenschaften auszeichnen. Dazu gehören beispielsweise hervorragende Leistungen im Abitur, im Studium, im ersten Examen oder in der Referendarzeit, aber auch besondere persönliche Fähigkeiten und Leistungen, welche die Persönlichkeit eines Richters positiv prägen. In den übrigen Ländern sieht es ganz ähnlich aus.
Ich habe mir die Frage gestellt, wie sich eine derartige staatliche Maßnahme (die Beschränkung qua Erlass) mit der in Artikel 12 GG verbürgten Berufsfreiheit vereinbaren lässt. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG schützt nicht nur die Wahl des Arbeitsplatzes und die Wahl der Ausbildungsstätte, sondern auch die Wahl des Berufes selbst. Das Justizministerium –mithin der Staat- hat aber die Entscheidung getroffen, dass ein Assessor, der die zweite juristische Staatsprüfung mit einer geringeren Punktzahl als 7,76 Punkten abgeschlossen hat, den Beruf des Richters nicht ergreifen kann. Er ist somit in seiner Berufswahl beschränkt.
In § 5 Abs. 1 des Deutschen Richtergesetzes heißt es: „Die Befähigung zum Richteramt erwirbt, wer ein rechtswissenschaftliches Studium an einer Universität mit der ersten Prüfung und einen anschließenden Vorbereitungsdienst mit der zweiten Staatsprüfung abschließt.“ Die Befähigung zum Richteramt geht damit allein mit der Erlangung des Assessorgrades einher. Soweit die Theorie.
In der Praxis kann es aber sein, dass ein Kandidat im Mai das zweite Examen mit 6,9 Punkten abschließt, ihm der Vorsitzende der Prüfungskommission die Hand schüttelt und das Zeugnis überreicht, welches ihm die Befähigung zum Richteramt attestiert. Im Juni erfährt er dann, dass er zwar die Befähigung zum Richteramt hat, jedoch unfähig ist, Richter zu werden.
Art. 12 Abs. 1 GG sichert die Freiheit des Bürgers, jede Tätigkeit, für die er sich geeignet fühlt, als Beruf zu ergreifen (BVerfGE 30, 292, 334; 54, 301, 313; 71, 183, 201; 75, 284, 292; 77, 84, 112). Jeder Absolvent der zweiten juristischen Staatsprüfung –auch derjenige, der nur knapp bestanden hat- hat nachgewiesen, dass er in der Lage ist, die Anforderungen an die Arbeit des Richters zu erfüllen. Im schlechtesten Fall sind seine richterlichen Fähigkeiten immer noch „ausreichend“. Ausreichend, um Recht sprechen zu können. Auch die Note „ausreichend“ ist die staatlich verbriefte Qualifikation, den Beruf des Richters zu ergreifen. Derselbe Staat jedoch, der dieses Zeugnis ausgestellt hat, verweigert dem Bewerber gegebenenfalls wenige Wochen später bereits die Teilnahme an einem Bewerbungsgespräch.
Mit diesem Vorwurf konfrontiert werden sich die Verantwortlichen hinter blumigen Worten von der „Examensnote als einzigem objektiven Kriterium“ zur „Bestenauslese“ verstecken, zu der sie ja gemäß Art. 33 Abs. 2 GG verpflichtet seien. Gerade der Grundsatz der Bestenauslese beinhaltet aber auch die Gleichheit des Zuganges zu jedem öffentlichen Amt. Jeder Bewerber muss angesehen werden, bevor sich herausstellt, welcher der Beste ist. Eine Bestenauslese kann nur treffen, wer alle Kandidaten gesehen und gehört hat. Erst dann kann er eine Rangfolge herstellen, die ihm eine qualifizierte Auslese ermöglicht.
Diesem fairen Auswahlverfahren, bei welchem sich jeder Bewerber zumindest präsentieren kann, greift der Staat vor, indem er vorweg seine Kriterien verkündet. Wer diese nicht erfüllt, wird chancenlos zur Seite geschoben.
Die Bevorzugung „vollbefriedigender“ oder besserer Absolventen ist sinnvoll und gut. Von einem Richter kann man –gerade in Zeiten eines enormen Bewerberüberschusses- überdurchschnittliche juristische Fähigkeiten erwarten. Diese können auch noch so gleißende besondere persönliche Fähigkeiten, neudeutsch soft skills, nicht ersetzen. Aus diesem Grund gibt es an den Auswahlkriterien nichts auszusetzen. Im Gegensatz zum Auswahlverfahren.
Statt für die freien Richterstellen aus den besten vorhandenen Bewerbern nach deren Bewerbung auszuwählen (meinetwegen mit einer Wertigkeit von 95% Examensergebnis, 5% besondere persönliche Fähigkeiten), legt der Staat einen absoluten Wert fest, den es zu erreichen gilt. Er nennt seine Wunschbewerber. Alle anderen fallen durch das Raster.
Die Numerus Clausus-Regelung im Hochschulzulassungsverfahren belässt jedem Supplikanten die Möglichkeit, bei ausreichender Wartezeit auch ohne exzellente Abiturnoten den gewünschten Studienplatz zu erhalten. Eine solche Möglichkeit gibt es im Richtereinstellungsverfahren nicht. Sie liefe auch dem Zweck der Beschränkung zuwider: die Bewerberzahl und somit den Verwaltungsaufwand der Justiz möglichst gering zu halten. Dies geht jedoch zu Lasten eines fairen Verfahrens. Drastisch formuliert könnte man sagen, der Staat sei zu bequem, ein ordnungsgemäßes Auswahlverfahren durchzuführen. Dies wirft die Frage auf, ob ein solcher Grund den Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG rechtfertigen kann. Jeder Jurastudent im zweiten Semester ist eingeladen, gegenüber dieser Begründung die sogenannte Stufenlehre des Bundesverfassungsgerichtes in Ansatz zu bringen.