Scheiben vor Gericht spezial: Vor 30 Jahren erschien „4630 Bochum“
Thomas Claer
Herbert Grönemeyer hat eine neue Platte, aber um die soll es hier gar nicht gehen. Ich kann nämlich mit seinem aktuellen Werk nicht mehr viel anfangen und habe es auch seit ca. Mitte der Neunzigerjahre nicht mehr so richtig verfolgt. Dennoch würde ich nie ein schlechtes Wort über ihn verlieren, zumal er als Typ nach wie vor ziemlich einmalig ist. Es gibt nicht viele Popmusik-Künstler mit einer so unverwechselbaren Art zu singen, „wie ein ausgeschütteter Sack Kartoffeln“, so hat ein Kollege von der Süddeutschen Zeitung es einmal beschrieben. (Was die Originalität des Gesangsstils angeht, können da wohl nur noch der große Udo Lindenberg und der unselige Heino mithalten.) Das Beste daran ist, dass er das völlig ungekünstelt hinkriegt. Er habe noch nie anders gesungen, könne nicht anders singen und wisse auch gar nicht, wie er es anstellen sollte, anders zu singen, verriet er jüngst in einem Interview. Seine Großmutter, die eine klassische Gesangsausbildung genossen hatte, habe ihm schon vor sehr langer Zeit gesagt, wenn er auf solche Weise singe, dann könne da nie etwas draus werden…
Vor 30 Jahren erlebte der damals 28-jährige Herbert Grönemeyer seinen kommerziellen Durchbruch und künstlerischen Höhepunkt zugleich mit der auch aus heutiger Sicht noch großartigen Platte „4630 Bochum“. Zuvor hatte er ein Jurastudium abgebrochen (sic!), als Sänger ein paar Platten aufgenommen, die sich verkaufstechnisch als grandiose Flops erwiesen, und hielt sich mit Theaterrollen über Wasser. Zu jener Zeit hatten sich seine Eltern schon ängstlich gefragt, was bloß noch aus dem Jungen werden solle. Und so kam es, dass der junge Grönemeyer ganz viel Wut und Trotz und Ungewissheit in seine Kompositionen und Texte einfließen ließ – und genau damit sein Meisterwerk erschuf. Nein, musikalisch und produktionstechnisch ist bestimmt nicht alles an dieser Platte gelungen. Die zeittypischen Keyboard-Klänge kann man durchaus als impertinent empfinden, die langsamen Stücke sind dem triefenden Kitsch manchmal bedenklich nahe. Und doch: All diese ernsten Vorbehalte des Zuhörers lösen sich förmlich auf angesichts der gewaltigen Energie, mit der dieser merkwürdige Ruhrpott-Poet seine Sicht der Dinge herausknödelt, -stochert und –brüllt. Und textlich ist er dabei streckenweise brillant.
Schatten im Blick, Lachen ist gemalt
Deine Gedanken sind nicht mehr bei mir
Streichelst mich mechanisch, völlig steril
Eiskalte Hand, mir graut vor dir
Fühl mich leer und verbraucht, alles tut weh
Hab Flugzeuge in meinem Bauch
Kann nichts mehr essen, kann dich nicht vergessen
Aber auch das gelingt mir noch
Viel besser kann man es nicht sagen. Eine volle Breitseite gegen die verräterische Angebetete, die schon deshalb keiner Schonung bedarf, weil sie gedanklich bereits anderweitig im siebten Himmel schwebt. Vor allem die „Flugzeuge im Bauch“ sind eine Metapher, die gewissermaßen wie ein Dampfhammer den Nagel auf den Kopf trifft und auf der Stelle versenkt. Gewiss ist es ein relativer Luxus, so unter Liebesqualen zu leiden. Nüchtern betrachtet sind Hunger, Zahnweh und sonstige Krankheiten allemal schlimmer. Doch ist es ja gerade das Perfide am Liebesschmerz, dass er immer auch eine Spur von Süße enthält, was die Intensität seiner Wahrnehmung paradoxerweise um ein Vielfaches steigern kann, ganz ähnlich wie die gefühlte Temperatur der Luft mitunter beträchtlich unter der auf dem Thermometer angezeigten liegt. „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,: Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide“, heißt es bei Goethe. Auch der junge Grönemeyer konnte offensichtlich solch höherer Einflüsterungen sicher sein.
Und das gilt auch für einen anderen Song auf dem Album, in dem sich das lyrische Ich über alle opportunistischen und pragmatischen Bedenken hinwegsetzt und an Friedens- und Umweltdemonstrationen teilnimmt, die in bestimmten, für seine weitere Karriereplanung vermutlich nicht unwichtigen Kreisen, als anrüchig gelten:
Sie werden dich fotografier’n
Sie werden dich registrier’n
Du verbaust dir dein ganzes Leben
Warum nur du, es gibt doch soviele andere
Kämpfen für ein Land,
Wo jeder noch reden kann
Herausschrei‘n, was ihm weh tut
Wer ewig schluckt, stirbt von innen
Hier wirft sich gleichsam der verhinderte Jurist mit Macht für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in die Bresche. Und das drei Jahrzehnte vor Edward Snowden, zu einer Zeit, als sich der sprichwörtliche Marsch der Protestgeneration durch die Institutionen gerade erst in Bewegung gesetzt hatte und die oberen Etagen, im Besonderen die des juristischen Establishments, noch ganz anders tickten.
Aber ist es denn heute wirklich so viel anders? Haben wir nicht immer noch unzählige Juristen, die, wenn es drauf ankommt, sicherheitshalber lieber schweigen um der lieben Karriere willen? Doch wie sollte es auch anders sein? Schon zu allen Zeiten galt das ungeschriebene Gesetz: „Wes‘ Brot ich ess‘, des‘ Lied ich sing“. Wer nicht mitspielt, ist ganz schnell draußen. Und natürlich können die wenigsten mit einer Laufbahn als Popstar rechnen, die sie für den Verzicht auf eine solcherart gebückte Existenz auch materiell ausreichend entschädigt. Trotzdem gibt es auch heute Juristen, die sich von niemandem etwas sagen lassen und kein Blatt vor den Mund nehmen. Ganz schön blöd, werden jetzt manche sagen. Ach, wascht ihr nur eure Autos! Das Urteil für die Grönemeyer-Platte, auf der sich auch noch solche Song-Granaten wie „Alkohol“, „Männer“, „Amerika“ oder das Titelstück „Bochum“ befinden, lautet: gut (13 Punkte).
Herbert Grönemeyer
4630 Bochum
Grönland (Universal Music)
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ASIN: B000023Y1M