Nordkorea ist komplexer als es westliche Medien oft darstellen – sagt ein in Ostdeutschland aufgewachsener Ökonom, der über das Land ein aufschlussreiches Buch geschrieben hat
Benedikt Vallendar
Pjöngjang / Leipzig – Die DDR-Vergangenheit des Autors dürfte ihm beim Verfassen des Buches sicherlich eine Hilfe gewesen sein. Denn wer dort sozialisiert wurde, weiß in der Regel, was es heißt, unter den Bedingungen einer kommunistischen Diktatur zu leben; zumal wenn diese, wie im Fall in Nordkorea, bislang nur wenigen Ausländern Einblick ihr Inneres gestattet. Rüdiger Frank, der das Land von zahlreichen Reisen und Forschungsaufenthalten her kennt, ist dies in beeindruckender Weise gelungen, auch wenn der gebürtige Leipziger dafür Kompromisse eingehen musste, um seine guten Kontakte zu nordkoreanischen Offiziellen nicht aufs Spiel zu setzen, wie es hinter verschlossener Hand heißt.
In seinem neuen Buch „Nordkorea – Innenansicht eines totalen Staates“ betrachtet der heutige Hochschullehrer die Gegenwart Nordkoreas zuvörderst durch die Brille des Objektiven, will sagen, er ist bestrebt, die Diskussion über das politische System zu „versachlichen“, so wie es linke Intellektuelle kurz nach dem Mauerfall 1989 über die im Untergang begriffene DDR getan haben – um dem System im Rückblick wenigstens eine Art Scheinlegitimität ins Grab zu legen. Ob sich Rüdiger Frank von diesen inspiriert fühlte, als er das Buch über Nordkorea schrieb, bleibt dahin gestellt. Jedenfalls verwahrt sich der Autor dagegen, das Regime in Pjöngjang klammheimlich aus dem Fokus des Ruchbaren ziehen, es gar salonfähig machen zu wollen, wie es stellenweise den Anschein erweckt, etwa wenn Frank die Unterdrückungsmethoden des nordkoreanischen Geheimdienstes mit „ähnlichen Praktiken“ im 14. Jahrhundert vergleicht und daraus indirekt eine historische Scheinlegitimierung ableitet.
Dessen ungeachtet nimmt der Autor den Leser mit auf eine faszinierende Reise in das Innere eines Landes, über das westliche Medien, mangels zuverlässiger Quellen, oft nur oberflächlich berichten können. Frank zeichnet ein Nordkorea jenseits des Mainstreams, indem er vor allem das Leben der kleinen Leute beschreibt, von Mangel und Misswirtschaft, von Reglementierungen, Massenaufmärschen und abgehörten Mobiltelefonen berichtet und dennoch an vielen Stellen den Eindruck erweckt, als sei dies der zum System dazugehörende „Normalzustand“, von dem sich der habilitierte Ostasienwissenschaftler an keiner Stelle ausdrücklich distanziert.
Detailverliebt erzählt Frank lieber von seiner Zeit in einem Studentenwohnheim der nordkoreanischen Hauptstadt, von Kommilitonen und kleinen Nutzgärten, die jeder Nordkoreaner zur Eigenversorgung anlegen darf und deren zulässige Größe die Regierung in den vergangenen Jahren erweitert hat, um die ärgsten Versorgungsengpässe als Folge der Planwirtschaft im Zaum zu halten. In fast schon pittoresker Manier beschreibt der Verfasser auch die unangenehmen Gerüche des „vitaminreichen“ Kohlgemüses, das viele Nordkoreaner auf den kleinen Balkons ihrer Plattenbauwohnung anbauen, um gesund über den Winter zu kommen. Der Leser taucht ein in eine Welt voller Abgründe und Absurditäten, was ihn an manchen Stellen vergessen lässt, dass Nordkorea, ob massiver Menschenrechtsverletzungen, auch in linken Kreisen längst an Reputation eingebüßt hat.
Doch auch bei der eher handbuchartigen Beschreibung des politischen Systems Nordkoreas kapriziert sich Frank zuvörderst auf Institutionen und deren Zuständigkeitsbereiche, was den Eindruck erweckt, als sei die Bevölkerung in wichtige politische Entscheidungsprozesse eingebunden, wovon das Land jedoch noch meilenweit entfernt ist. Wiederholt zieht Frank Parallelen zu China, dem großen Nachbarn und Verbündeten Nordkoreas, wo allein Wirtschaftsreformen zu einer allmählichen Öffnung führen sollen, ohne den Allmachtanspruch der Kommunistischen Partei in Frage zu stellen.
Beim Untergang der DDR war der Autor, habilitierter Wirtschaftswissenschaftler und Koreanist, gerade zwanzig Jahre jung und von jeher mit großem Interesse an den Kulturen und politischen Systemen im ostasiatischen Raum, wie er sagt. Durch die Auslandtätigkeit seines Vaters hatte er zuvor mehrere Jahre in der Sowjetunion verbracht und schon früh erkannt, dass Ostasien zum Globalplayer des 21. Jahrhunderts werden würde, wirtschaftlich, politisch und wahrscheinlich auch kulturell; eine Weltzone, die sich schon früh anschickte, ihren eigenen Weg zu suchen, ohne dabei allzu sehr in die Hemisphäre der USA zu geraten.
Frank gilt im deutschsprachigen Raum als anerkannter Experte für Ostasien. Nach Lehrtätigkeit in New York und Soeul ist er heute Professor an der Universität Wien und Vorstand des dortigen Instituts für Ostasienwissenschaften. Dessen ungeachtet zieht sich die ostdeutsche Vergangenheit des Wahlösterreichers wie ein roter Faden durch das Buch, das an vielen Stellen Vergleiche zwischen DDR-Alltag und nordkoreanischer Gegenwart zieht. Denn so wie einst die SED über 16 Millionen Bürger herrschte, so geriert sich auch die kommunistische Führung Nordkoreas weiterhin als Gralshüterin einer Lehre, mit der sie ihre Untertanen glücklich und gefügig zu machen trachtet.
Und dennoch wäre es falsch, in Frank einen heimlichen PR-Agenten des nordkoreanischen Regimes zu vermuten. Denn vieles, was er schreibt, entspricht auch den Einschätzungen unabhängiger Menschenrechtsorganisationen, die bei Nordkorea bekanntlich kein Blatt vor den Mund nehmen. Doch bedürfe es genaueren Hinschauens, einer gewissenhaften Analyse, um einen differenzierteren Blick auf das Land und seine Leute zu bekommen, sagt Frank im Hinblick auf die Berichterstattung westlicher Medien, wo gerne vergessen wird, dass sich auch unter dem Eindruck von Lüge und amtlicher Bevormundung ein normales Leben führen lässt. In den Augen der USA und vieler ihrer Verbündeten gilt Nordkorea, zusammen mit dem Iran und den Taliban in Afghanistan, von jeher als „Reich des Bösen“, was wohl auch diversen Boulevard-Berichten über das angebliche Lotterleben seines politischen Führers Kim Jong-un geschuldet ist.
Während der Süden Koreas zu Beginn der neunziger Jahre auf demokratisch-kapitalistischen Kurs ging, seit 1996 gar zur westlichen Wertegemeinschaft unter dem Dach der OECD gehört, verharrt der Norden weiterhin in jenen Koordinaten, die seit Ende des Koreakrieges 1953 die politische Landkarte der Halbinsel bestimmen. Rüdiger Frank ist es auf über 400 Seiten anschaulich gelungen, einen neuen Blick auf diese zu entwickeln und manches liebgewordene Vorurteil über Nordkorea in Frage zu stellen.
Rüdiger Frank
Nordkorea. Innenansichten eines totalen Staates
Geb., 432 Seiten mit Abbildungen, 19,99 €
DVA Sachbuch 2014
ISBN: 978-3-421-04641-3