Der deutsche Salesianerbruder Lothar Wagner betreut in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones in Westafrika, jugendliche Strafgefangene
Benedikt Vallendar
Freetown / Trier – Hitze, Hundegebell und hupende Autos. Sie sind seine ständigen Wegbegleiter, wenn Bruder Lothar Wagner SDB morgens das Haus verlässt und durch die engen Gassen von Freetown geht. Um bei hoher Luftfeuchtigkeit und Temperaturen von 30 Grad sein Tagwerk zu beginnen. Sein Weg führt vorbei an schmuddeligen Imbissständen, Lokalen mit lauter Musik und Bettlern, die ihn erwartungsfroh anblicken. Freetown ist eine Stadt, die niemals schläft und wo das Leben oft einem Überlebenskampf gleicht. Bruder Lothar, gebürtiger Trierer, gehört zu jenen Deutschen, die dort eine vorübergehende Heimat gefunden haben, weil sie darin ihre Berufung sehen. Der 41-Jährige Angehörige der Salesianer Don Boscos lebt und arbeitet seit mehreren Jahren als Sozialarbeiter in der Hauptstadt Sierra Leones an der Westküste Afrikas. Studiert hat er unter anderem in Köln.
Gefängnisseelsorger und Missionar
Sierra Leone verfügt über eine faszinierende Fauna und Flora, und ist doch alles andere als ein Urlauberparadies. Denn die ehemalige britische Kolonie belegt seit Jahren hintere Plätze auf dem Human Development Index (HDI), einem weltweit anerkannten Wohlstandsindex mit 185 Ländern, auf dem die Bundesrepublik zurzeit Platz 6 einnimmt, hinter Norwegen, der Schweiz und den USA.
Sierra Leone hat wiederholt wegen diverser Ebola-Epidemien und hoher Kriminalitätsraten von sich Reden gemacht. Mehrere Tausend Menschen sind seit 2011 an der Krankheit gestorben, ganz zu schweigen von den unzähligen Waisenkindern, die nun allein auf den Straßen der Hauptstadt umherirren, auf der Suche nach Essbarem, Kleidung und menschlicher Zuwendung. Manche von ihnen landen im Gefängnis, weil sie beim Klauen erwischt wurden, oft nur wegen ein paar Orangen oder einer Flasche Cola. Das reicht, um in Sierra Leone für mindestens ein Jahr ohne Gerichtsverfahren hinter Gittern zu verschwinden. Der Bestohlene zahlt ein paar Euros an einen Mittelsmann, der mit der Polizei kooperiert. Und schon landet der Delinquent ohne Urteil hinter schwedischen Gardinen. Das soll angeblich abschreckend wirken, so das Kalkül von Justiz und Geschäftsleuten, die kaum Verständnis für die Not der Jugendlichen zeigen. Immer wieder hört Bruder Lothar von solchen und ähnlichen Geschichten, wenn er die Heranwachsenden auf der Straße besucht, mit ihnen mahlzeitet, gemeinsam betet und sie im Gefängnis mit frischer Wäsche und Medikamenten versorgt.
Jedes Mal ein Festmahl
Fast jede Woche verrichtet Bruder Lothar seinen Dienst im Gefängnis seines Stadtbezirks. „Manche Insassen teilen sich zu acht eine 15 Quadratmeter kleine Zelle“, sagt er, „mit winzigem Guckloch an der Decke und wechseln sich ab beim Schlafen, weil die Fläche am Boden dafür zu klein ist“. Die Notdurft verrichten die Häftlinge in einem Plastikeimer, der einmal täglich geleert wird. Nur manchmal gibt es Toilettenpapier.
Und trotz der unappetitlichen Bedingungen kommt irgendwann der Hunger. Bruder Lothar und seine Mitstreiter karren daher fast täglich im Lieferwagen Reis, Gemüse und Fleisch heran, was von den Gefangenen jedes Mal wie ein Festmahl zelebriert wird. Das Essen stammt aus einer Großküche der Salesianer in Freetown, die auch Straßenkinder versorgt. Die Aktion mit dem Essen wissen auch die Wärter zu schätzen, weil Häftlinge mit gefülltem Magen ausgeglichener sind, und es seltener zu Revolten kommt, wie in afrikanischen Anstalten oft üblich. Und doch fühlt sich Bruder Lothar manchmal wie mit dem Rücken an der Wand, sagt er, weil ihn immer wieder neue Hilfsanfragen ereilen, die er mangels Kapazitäten oft genug zurückweisen muss.
Blutiger Bürgerkrieg
Doch auch außerhalb des Strafvollzugs leisten Salesianer in Sierra Leone wichtige Dienste. Als Ordensgemeinschaft sind sie längst eine Größe im fragilen Sozialgefüge Westafrikas geworden. Seit 1996 arbeiten die Patres und Brüder vom Orden Don Boscos in Sierra Leone für Kinder und Jugendliche, die ohne fremde Hilfe keine Chance auf eine Schul- und Berufsausbildung hätten. In den vergangenen Jahren entstanden an der Westküste Afrikas Jugendzentren, Gesundheitsstationen, Pastoral- und Sozialeinrichtungen sowie Berufsbildungszentren und weiterführende Schulen.
Die Not in Sierra Leone kommt nicht von irgendwo. Zwischen 1991 und 2002 tobte in dem kleinen Land, einst Hauptumschlagplatz der Portugiesen für ihren Sklavenhandel mit Nord- und Südamerika, ein blutiger Bürgerkrieg, der an Grausamkeit kaum zu überbieten war und tiefe Wunden geschlagen hat. Noch heute gehören Bein- und Armaputierte in Freetown zum Straßenbild. Die Kriegsversehrten stehen mit Blechdosen bewaffnet an Ecken und Kreuzungen und sind froh, am Abend so viel zusammen zu haben, dass es für eine kleine Mahlzeit und einen ruhigen Schlafplatz reicht, für den immer wieder ein kleines Schutzgeld fällig ist.
Im Bürgerkrieg der neunziger Jahre ging es um die Verteilung wertvoller Ressourcen, um Diamanten und Edelmetalle, um die sich Politiker, Clanchefs und mafiaähnliche Organisationen bis heute streiten, auch wenn seit mehr als zehn Jahren Frieden herrscht. Und wiederholt waren es ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich um das Wohl der Menschen bemüht haben. Doch die Sache hatte einen Haken. Viele NGO-Mitarbeiter haben das Land irgendwann wieder verlassen und die Menschen ihrem Schicksal überlassen, was oft passiert, wenn Entwicklungshelfer auf den Plan kommen und mit „Projekten“ beginnen. Sobald ein Krisenland aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit verschwindet, verschwinden auch die ausländischen Helfer. Allein katholische Ordensleute wie Lothar Wagner sind es, die in Sierra Leone die Stellung halten, um das Schicksal derer zu teilen, die ihnen anvertraut sind. „Ohne Gott wäre ich nicht hier“, sagte Bruder Lothar einmal auf die Frage eines Reporters, warum er es schon solange in Sierra Leone aushalte, trotz Mückenplagen, Seuchen und zum Himmel schreiender Armut. Rund 70 Prozent aller Sierra Leoner müssen mit knapp einem Euro pro Tag über die Runden kommen, berichtet das Online-Lexikon Wikipedia.
Bruder Lothar gilt mit den unter seiner Ägide entstandenen Therapiezentren für Ebola-Erkrankte, Kriegstraumatisierte und Straßenkinder als Fels in der Brandung Sierra Leones, da er nachhaltig arbeitet und sich nicht auf punktuelle Nothilfe beschränkt, wie auch unabhängige Experten anerkennend bestätigen. Es gehe ihm um die Veränderung von Strukturen, damit auch seine Nachfolger gute Arbeit im Dienst am Menschen leisten können, sagt Bruder Lothar. Rund 100 Mitarbeiter, bezahlte Ortskräfte und Freiwillige aus Deutschland, gehören mittlerweile zu seinem Team, das sich als katholische Organisation Respekt und Anerkennung bis in höchste Regierungskreise des mehrheitlich muslimischen Landes erworben hat.