Die Erfindung des Home-Office: Eine vergnüglich-böse Kurzgeschichte von Joris-Karl Huysmans aus dem Jahr 1888
Thomas Claer
Dem Verwaltungsjuristen Bougran ist übel mitgespielt worden. Wegen angeblicher „moralischer Invalidität“ hat man ihn nach über zwei Jahrzehnten im Ministerium mit gerade erst 50 Jahren vorzeitig zwangspensioniert. Aber alles ist streng nach Recht und Gesetz abgelaufen. Der Hintergrund ist, dass ein junger Günstling des Ministers auf einem lukrativen Posten untergebracht werden muss. Also wird Monsieur Bougran hinauskomplimentiert, seine Stelle abgeschafft und für den Novizen unter anderer Bezeichnung wieder neu eingerichtet. So ziemlich das Schlimmste, was man Menschen antun kann, ist es, ihnen Privilegien erst zu geben und sie ihnen später wieder wegzunehmen. Sie betrachten das dann zumeist als himmelschreiende Ungerechtigkeit und brechen darüber in großes Wehklagen aus. So auch Monsieur Bougran, die titelgebende Hauptperson in der nur 18 Seiten umfassenden Kurzgeschichte des großen französischen Romanautors Joris-Karl Huysmans (1848-1907), eines der maßgeblichen Wegbereiter der literarischen Moderne, aus dem Jahr 1888.
Huysmans hatte einen Ruf „als Kunstkritiker und leicht perverser Ästhet“, so Daniel Grojnowski in seinem vorzüglichen Nachwort, das die sehr gelungene Neuausgabe dieser Meistererzählung im Kleinverlag „Friedenauer Presse“ krönt, die seit 2012 inzwischen schon in mehreren Auflagen erschienen ist. Huysmans‘ Hauptantriebsfeder für all sein literarisches Schreiben soll seine vielfache Enttäuschung von den Frauen gewesen sein. Berühmt geworden ist er vor allem durch den Roman „Gegen den Strich“, in dem es um einen dekadenten und neurotischen jungen Aristokraten geht, der schließlich in geistiger Umnachtung versinkt. Der Erfolg von „Gegen den Strich“ hatte sich allerdings eher auf ein intellektuelles Publikum beschränkt. Daneben landete Huysmans mit einigen weniger ambitionierten Romanen, die heute fast völlig vergessen sind, auch mehrere Bestseller. Doch hatte er darüber hinaus noch einen „Brotberuf“, der es in sich hatte: Er war Beamter im Pariser Innenministerium und brachte es bis zum „Stellvertretenden Leiter des Politischen Büros der Direktion des Amtes für Öffentliche Sicherheit“. In seiner kleinen und überaus feinen Erzählung „Monsieur Bougran in Pension“ plaudert Huysmans also gewissermaßen aus dem Nähkästchen. Sehr anschaulich und pointiert berichtet der Autor darin vom Pariser Behördenalltag im ausgehenden 19. Jahrhundert. Und der Leser, vor dessen geistigem Auge ein lebendiges Bild von der streng reglementierten damaligen Verwaltung entsteht, fühlt sich trotz aller Unterschiede doch auch ein wenig an Fernsehserien wie „Stromberg“ und an eigene Erfahrungen in deutschen Amtsstuben erinnert. Wir wollen jetzt nicht spekulieren, wie viele von Huysmans‘ literarischen Werken während seiner Dienstzeit im Büro entstanden sind. Doch immerhin war es ihm nachweislich möglich, in der Arbeitszeit bedeutende Briefe an Schriftstellerkollegen zu verfassen.
Nun muss der weit eher zum Schriftsteller denn zum Bürokraten berufene Huysmans in der tristen Arbeitswelt mächtig gelitten haben. Sein einfacher gestrickter Erzählungsheld Bougran hingegen ist das, was man heute einen Workaholic nennt, und daher ob seiner Degradierung zum Frühpensionär völlig verzweifelt. Allein im Beruf findet er seine Bestimmung und Erfüllung. Er hat keine Freunde außer seinen Kollegen und keine Hobbies außer seiner Arbeit. Kurz, das Büro ist sein Leben. Und über den Verlust seiner alten geregelten Daseinsform kann ihn auch nicht die durchaus ordentliche Pension hinwegtrösten, die ihm jetzt zusteht. Jedoch blüht er regelrecht auf, als ihm auf einem seiner traurigen Spaziergänge durch Paris nach seiner Pensionierung der rettende Gedanke kommt: Er tapeziert das kleinste Zimmer seiner Wohnung auf exakt die gleiche Weise wie seinen früheren Büroraum, besorgt sich die entsprechenden Schreibtische, Stühle und Regale und stellt in diese irgendwelche alten Akten hinein. Vor allem aber sorgt er dafür, dass das Zimmer von nun an weder vernünftig gereinigt noch gelüftet wird, damit es dort schon bald so staubig riechen soll wie in seinem alten Büro – und fertig ist das perfekte Home-Office! Nein, noch nicht ganz. Er braucht ja noch etwas zu tun. Doch hierbei hilft er sich, indem er täglich fiktive Behördenbriefe verfasst und an sich selbst adressiert, die ihn dann am nächsten Tag wieder erreichen und beantwortet werden wollen und so fort. Doch merkt er schon nach kurzer Zeit, dass ihm noch etwas ganz Entscheidendes fehlt: der Klatsch und Tratsch mit den Kollegen. Aber auch diesem Mangel weiß er abzuhelfen. Kurzerhand gibt er seinem früheren alten, inzwischen ebenfalls pensionierten Bürodiener eine Anstellung bei sich, so dass dieser für ihn künftig alle Botengänge erledigen und ansonsten ausgedehnte Konversation mit ihm pflegen kann.
Natürlich ist das alles eine groteske Donquichotterie. Und dennoch hat Huysmans in seinem flüchtig verfassten Nebenwerk weit mehr geschaffen als eine bloße amüsante Parabel auf die damalige Büro-Arbeitswelt und ihre sinnentleerten Rituale. Vielleicht ganz ohne Absicht ist dabei auch eine ungemein moderne Figur entstanden: ein früher Vorläufer der heutigen urbanen Do-it-yourself-Klasse, die sich nicht mehr länger den Unzumutbarkeiten einer Angebot-und-Nachfrage-Arbeitswelt unterordnen mag, sondern sich – notfalls ohne Aussicht auf ein auskömmliches Einkommen – ihren Traum von der beruflichen Selbstverwirklichung erfüllt. „Wie nennt man einen arbeitslosen Journalisten?“, so lautete vor einigen Jahren ein weit verbreiteter Witz. Antwort: „Blogger.“ Womöglich sind das ja schon die Vorübungen für das langsam, aber sicher heraufziehende neue Zeitalter der Digitalisierung 3.0, in dem dann auch unzählige andere altvertraute Jobs irgendwann überflüssig werden.
Joris-Karl Huysmans
Monsieur Bougran in Pension
Friedenauer Presse 2012
32 Seiten (broschiert), EUR 9,50
ISBN-10: 3932109724